Gegen Meinungssoldaten und den Tugendterror: Martin Walser.

Foto: Imago / Horst Galuschka

Wien – Silke ist weg. Tochter Gerlinde auch. Die Gattin Gerda liegt im Spital. Es ist, so sagen die Ärzte, das Herz. Dazwischen, oder vielmehr im Zentrum dieses Beziehungstsunamis: Justus Mall, Hauptfigur von Martin Walsers neuem Grübel-Roman Gar alles.

Wie immer in den Büchern dieses Autors, der vor einem Monat seinen 91. Geburtstag feierte, handelt es sich auch bei der neuen Walser-Figur um einen Mann im nicht mehr besten Alter, der ein "erotischer Optimist" geblieben ist und sich dem "Zähnetheater", vor allem aber den "gleißenden Oberschenkeln" irgendwelcher Damen ausgeliefert sieht. Klingt unangenehm und politisch nicht besonders korrekt, dieser Roman ist beides.

Die Ausgangslage des nur 110 Seiten starken Büchleins ist indes schnell erzählt. Es geht um einen Mann zwischen zwei Frauen. Die eine, Gerda, hat er seit langem, die andere, Silke, "noch nicht so lange". Er glaubt, beiden treu zu sein, denn "wie es mehr als eine Art Liebe gibt, gibt es auch mehr als eine Art Treue". Das sehen die beiden Angebeteten zum Erstaunen des Polyamoristen anders, sie fordern eine Entscheidung, da sie nicht fällt, ziehen sich beide zurück.

Untiefen des Internets

Der plötzlich ins Zweifeln geratene Mall startet daraufhin ein "Blog-Unternehmen", wie er es nennt, und stellt 38 Briefe und Briefchen an eine unbekannte, noch zu findende Geliebte ins Netz. Diese Einträge von einem, der es in den Tiefen des Internets darauf anlegt, sich um Kopf und Kragen zu schreiben, bilden den Roman, der mit dem schönen Satz "Ich bin nicht ich" anhebt.

Wer Mall genau ist, oder besser, wer er nicht ist, wird sich erst spät herausstellen. Zunächst führt er sich als Publizist und Philosoph ein, der mit Werken wie "Die Lüge als Mutter der Wahrheit" an die Öffentlichkeit trat. Spät erst wird klar, dass Mall in Wirklichkeit Gottlieb Schall heißt – und als Oberregierungsrat des bayrischen Justizministeriums (Sektion Migration) über einen Belästigungsskandal stolperte.

Letzteres wird gleichsam am Rand erwähnt, denn vor allem schreibt Mall in seinen zwischen Rechtfertigung und Bekenntnis oszillierenden Briefen über sich selbst und die Frauen. Überall dräuen "steile Brüste" sowie "grell-schöne" oder wahlweise "erhaben-schöne" Frauen, zuweilen aber auch eine "trockene Scheide", wie Mall seine Nachbarin nennt, mit der er über eine Thujenhecke streitet. Kurz: "Die Wirklichkeit ist eine hageldichte Folge weiblicher Erscheinungen." Auch Mr. Trump imponiert dem Blogger, wahrscheinlich nicht nur wegen seines Frauenbildes, sondern weil er weniger gelogen hat "als je ein Kandidat vor ihm".

Das alles ist recht starker Tobak, auch durch die schonungslose Offenheit, mit der hier eine nach Verständnis und Angenommensein bettelnde Figur ihr gewöhnungsbedürftiges Weltbild ausbreitet. Martin Walsers Protagonisten sind schon immer in den Einzelzellen des Selbst eingesperrte Peinlichkeitsvirtuosen gewesen.

Es ist nicht die Aufgabe von Literatur, eine moralische Wohlfühlatmosphäre zu schaffen, noch sollte man den Autor mit seiner Figur verwechseln. Was in Gar alles aber unangenehm berührt, ist die distanzlose Larmoyanz dieses Mall, die es schwermacht, seine Ergüsse ernst zu nehmen.

Provokationen

Martin Walser, der mehr als 60 Bücher geschrieben hat und unverdrossen jedes Jahr ein neues vorlegt, wettert schon lange gegen die "Meinungssoldaten" in den Medien und den "Tugendterror der Political Correctness". Sein ungelenker und provokativer Beitrag zur MeToo-Debatte verpufft – wie im Roman die Internetbriefchen – resonanzlos. Er ist zu oberflächlich vorgetragen, erstaunlich oberflächlich für einen begnadeten Stilisten, der Walser ist. Immer noch. (Stefan Gmünder, 26.4.2018)