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Der Amokfahrer von Toronto hat vor allem Frauen getötet. Er gehört der "Incel"-Bewegung an, einer frauenfeindlichen Subkultur im Internet.

Foto: REUTERS/Carlo Allegri

Nahezu regelmäßig wird über Massenmorde im amerikanischen Raum berichtet. Zwischen 1982 und Februar 2018 wurden allein in US-amerikanischen Schulen 97 Mass-Shootings verzeichnet. 94 davon wurden von Männern durchgeführt.

Nehmen wir an, 94 von 97 Massenmorden wären von Frauen begangen worden. Denken Sie, das würde im öffentlichen Diskurs nur nebensächlich diskutiert werden? Oder wäre das Erste, worüber man sprechen würde, dass die Verschiebung der kulturellen Vorstellungen von Weiblichkeit zu solchen Taten beigetragen haben könnte?

Diskussionen über die Relevanz von Geschlecht und die dahinterliegenden Normen sind höchst bedeutsam, werden aber bei männlichen Tätern kaum geführt. Dabei sind Männer genauso geschlechtsabhängig wie Frauen.

Psychische Erkrankung als Ursache?

Im öffentlichen Diskurs wird der Fokus stattdessen stark auf psychische Erkrankungen gelegt. Dabei stellt sich die Frage: Wenn diese die Ursache für Massenschießereien sind, warum werden die Morde dann nicht in gleichem Ausmaß von Frauen begangen? Und warum werden sie fast ausschließlich von weißen Männern begangen – jenen Mitgliedern der Gesellschaft, die eine privilegierte Vormachtstellung haben, die leicht zu bröckeln beginnt?

In seiner Studie über School-Shootings zeigt der amerikanische Sozialwissenschafter Jackson Katz, dass dominante Männlichkeitsbilder einen starken Druck auf diese Gruppe ausüben. Was die Täter gemeinsam haben, ist weder das Spielen von aggressiven Computerspielen noch der leichte Zugang zu Waffen oder psychische Probleme, sondern dass sie von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern nicht als ausreichend männlich wahrgenommen wurden. Werden junge Männer den gängigen Geschlechternormen nicht gerecht, gehen sie das Risiko ein, abgewertet oder ausgeschlossen zu werden. Üben sie dann Gewalt aus, so erfüllen sie wieder die Erwartungen ihres Geschlechts und erobern sich ihre Männlichkeit zurück.

Anspruchsberechtigung und Frustration

Zum vorherrschenden Männlichkeitsbild zählt nicht nur das Verbergen von Verletzlichkeit, sondern auch der Anspruch auf bestimmte Dinge wie finanziellen Erfolg, Zugang zu Frauen oder Macht. Ist man in diesen Bereichen nicht "erfolgreich", kann es mitunter zu schweren Kränkungen kommen. Und ohne andere Umgangsformen gelernt zu haben, um derlei Kränkung auszudrücken, greifen einige Männer auf unterschiedliche Formen von Gewalt zurück.

Auch im aktuellen Fall des Amokfahrers von Toronto waren diese Motive leitend. Der Hauptverdächtige Alek Minassian ist Mitglied der "Incel"-Bewegung (involuntary celibate), die ihre kollektive sexuelle Frustration zur Grundlage einer zutiefst frauenfeindlichen Online-Subkultur gemacht hat. Auf der offiziellen Homepage wird ein "incel" beschrieben als jemand, der keinen Sex haben kann, obwohl er will, und dem die Freude an Beziehungen verweigert wird. Reaktionäre Bewegungen wie diese nehmen im Netz zu. Viele von ihnen propagieren frauenfeindliche Ideologien, fordern zu Vergewaltigungen auf und idealisieren misogyne Gewalttäter.

Die bewaffnete Vergeltung von sexuell erfolglosen Männern ist kein Einzelfall. Im Jahr 2014 beging Elliot Rodger einen Massenmord in Isla Vista, Kalifornien. Er begründete die Tat mit der Rache an Frauen, da er von ihnen abgelehnt wurde und mit 22 Jahren noch Jungfrau war. Rodger wurde von einigen Incels zum Vorbild und Helden erhoben. Auch Minassian hat in einem Facebook-Post auf Rodger verwiesen und verkündet: "incel rebellion has already begun".

Gewalt und dahinterliegende Gefühle

Eine der Arten, wie wir Gewalt verstehen können, ist, dass es eine äußere Manifestation eines inneren Schmerzes ist, etwa eine tiefe unerfüllte Sehnsucht nach Verbindung, die zu Verzweiflung und Wut führen kann. Denn gemäß den gesellschaftlichen Erwartungen und Normen sollen Männer nur bestimmte Emotionen erleben und ausleben. Ärger und Wut sind akzeptierte und erwartete Formen ihres emotionalen Ausdrucks, ganz im Gegensatz zu Leid und Vulnerabilität.

Neben einer Form von Schmerz ist es auch eine Form von Rache. Gewalt kann für Männer ein Mittel sein, um etwas zurückzuerobern, von dem sie glauben, dass sie darauf Anspruch haben. Darunter fallen sogenannte "Beziehungstaten", bei denen Täter ihren Ex-Partnerinnen physischen Schaden zufügen, wie auch die Vergeltung an Schulkollegen, die einen nicht als maskulin genug anerkannt haben. Oder aber alle Frauen, da sie einen verletzlich machen und diese Verletzlichkeit dem eigenen Männlichkeitsbild widerspricht. Die Täter bedienen sich der Gewalt normalerweise nicht, weil sie Temperamentsprobleme haben, sondern eher als Mittel, um Macht und Kontrolle über die anderen zu gewinnen oder zu behalten. Damit erfüllen sie die Erwartungen ihres Geschlechts.

All dies soll nicht heißen, dass alle Männer, die das Gefühl haben, ihr wahrgenommenes Recht auf Macht und Autorität zu verlieren, zu Gewalttätern werden. Dennoch müssen die breiteren Muster berücksichtigt werden. Es wäre wichtig, darüber zu reden, wieso viele Buben und Männer in unserer Gesellschaft dazu konditioniert sind, Gewalt als Lösung ihrer Probleme oder Ängste zu betrachten, oder Rache an denen zu üben, von denen sie glauben, dass sie ihnen etwas nehmen.

Männlichkeit in den öffentlichen Diskurs bringen

Insgesamt wird deutlich, dass traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit, Dominanz, Stärke und Kontrolle in vielerlei Hinsicht schädlich für das gemeinschaftliche Zusammenleben sind – nicht nur für Frauen, sondern besonders für Männer selbst. Das zeigt sich schon in der frühen Kindheit. Ohne eigenes Verschulden werden Kinder abgewertet, weil ihre Schulkolleginnen und -kollegen denken, dass alle Buben einen bestimmten Weg gehen, bestimmte Eigenschaften und Vorlieben haben müssen. Das ist ein sehr hoher Preis, den viele Kinder dafür zahlen, dass Erwachsene unreflektiert mit der Kategorie Geschlecht umgehen.

Das Thema stärker in den öffentlichen Diskurs zu bringen wäre also wichtig, ist allerdings erfahrungsgemäß nicht einfach. Von dem manipulativen Argument, dass es "männerfeindlich" sei, sich bei Gewaltereignissen auf Männlichkeitsfragen zu konzentrieren, sollte man gänzlich unbeeindruckt bleiben. Nicht alle Männer begehen Gewalttaten, aber fast alle Gewalttaten werden von Männern begangen. Opfer dieser Gewaltdelikte sind Männer und Frauen. Die Diskussion ist also im Sinne aller Geschlechter. Nur wenn wir den gesellschaftlichen Mut aufbringen, dieser Tatsache ohne Angst vor banalen Schuldzuweisungen in die Augen zu schauen, ist es möglich, etwas dagegen zu tun. (Laura Wiesböck, 26.4.2018)