Bonn – Nervenzellen kommunizieren über elektrische Signale. Ihre Ausläufer sind dazu von einer Art Isolierschicht umgeben, einer fettähnlichen Substanz, dem so genannten Myelin. Bei Multipler Sklerose (MS) zerstört das körpereigene Immunsystem diese Myelinschicht. Bislang versuchen Mediziner, das Immunsystem zu bremsen. Forscher der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn haben nun einen möglichen Alternativansatz zur Behandlung von MS gefunden.

"Wir wollen die geschädigte Myelinhülle um die Nervenfasern reparieren", sagt Studienleiterin Evi Kostenis vom Institut für Pharmazeutische Biologie der Universität Bonn. Dazu wollen die Wissenschafter bestimmte Zellen im Gehirn nutzen, die Oligodendrozyten. Diese ähneln einem mikroskopisch kleinen Kraken: Von ihrem Zellkörper gehen sehr viele lange Ärmchen aus, die größtenteils aus Myelin bestehen. Wie ein Isolierband wickeln sich diese bei der Entwicklung des Gehirns um die Nervenzellfortsätze.

Normalerweise hält die schützende Schicht ein Leben lang, für Reparaturarbeiten gibt es im Gehirn zudem ein Reservoir unreifer Oligodendrozyten. Kommt es zu Schädigungen, reifen sie heran und flicken das Loch in der Myelinhülle. Bei der Multiplen Sklerose ist dieser Mechanismus jedoch gestört: Viele der zellulären Isolierband-Spender verbleiben in ihrem unreifen Zustand.

Von Ratten und Mäusen

"Vor einigen Jahren haben wir jedoch entdeckt, dass sich der Reifungsprozess gezielt anschalten lässt", erklärt Kostenis. Eine Schlüsselrolle spielt hier der so genannte GPR17-Rezeptor. Rezeptoren sind Moleküle, an die bestimmte Botenstoffe andocken können. Dadurch lässt sich Verhalten der Zelle beeinflussen, die den Rezeptor auf ihrer Oberfläche trägt. Allerdings ist GPR17 eine Art "verwaister" Rezeptor: Es ist noch nicht bekannt, was seine körpereigenen Botenstoffe sind. Lange Zeit war daher unklar, wofür er überhaupt zuständig ist.

Mittlerweile ist klar, dass GPR17 die Heranreifung von Oligodendrozyten steuert. "Uns ist es dann 2013 erstmals gelungen, den Rezeptor gezielt mit einem Wirkstoff zu aktivieren beziehungsweise zu hemmen", sagt Kostenis. "Dabei konnten wir zeigen, dass der von uns genutzte Hemmstoff die Reifung der Oligodendrozyten fördert – leider aber nur in Ratten und Mäusen, wie wir inzwischen wissen."

Noch viel Forschung notwendig

Die Forscher suchten daher in Datenbanken nach Substanzen, von denen bekannt ist, dass sie an Verwandte des GPR17-Rezeptors andocken können. Dann untersuchten sie jeden dieser Kandidaten auf seine Wirkung auf GPR17. Mit Erfolg: Eine der Testsubstanzen – ein Medikament namens HAMI – war dazu in der Lage, den GPR17-Rezeptor zu blockieren. Und zwar nicht nur in Zellkulturen von Maus und Ratte, sondern auch in solchen des Menschen.

"Möglicherweise eignet sich HAMI also als Ausgangspunkt für neue MS-Medikamente", hofft Kostenis. HAMI bewirkte in den getesteten Kulturen, dass die Oligodendrozyten ausreiften und dabei ihre charakteristischen Myelin-Ärmchen bildeten. Allerdings ist damit noch nicht gezeigt, dass die Substanz im Gehirn lebender Organismen die Myelinhülle wiederherstellen kann. "Wir sind jedoch angesichts unserer Experimente vorsichtig optimistisch. Entsprechende Studien werden aber noch Jahre in Anspruch nehmen", sagt die Expertin. (red, 30.4.2018)