Ich war gerade noch sechzehn. Ich liebte den Mai mehr als andere Monate. Wegen meines Geburtstags. Weil der Winter da ganz sicher ein Ende hatte. Als ich diese Maitage in Russland verbrachte, war das ein Kriterium, das im April ab und zu nicht erfüllt wurde. Drittens wegen den blühenden Kastanien, die gab es erst in Wien.

Der Maitag, der so bedeutsam in der Geschichte Europas werden sollte, fühlte sich nicht anders an als all die anderen. Ich verbrachte ihn draußen, so wie meine Geschwister. Der Wind wühlte mein Haar auf. Am Nachmittag wurden die Erwachsenen panisch und jagten uns plötzlich ins Haus. Ich glaube mich erinnern zu können, dass es regnete. Vielleicht erinnere ich mich aber auch falsch. Meine Eltern klebten vor dem Fernseher. Sie sagten uns nichts.

Während ich mich wunderte, was zum Teufel denn los sei, war im weit entfernten Unglücksort um Tschernobyl schon lange ein hektisches Treiben ausgebrochen. Man neigt dazu, all diese Ereignisse verblassen zu lassen. Die ins verseuchte Wasser springenden Taucher. Die Soldaten in den Hubschraubern über der Ruine. Alle jene, die erst später bemerken würden, dass sich etwas unwiederbringlich verändert hatte: in ihnen, in der Welt, die sie umgab. All die Opfer. All die Verwüstung. All das Schweigen. Die zurückgelassenen Haustiere: manche erschossen. Einige überlebten in der Todeszone, bildeten Rudel. Die Natur ist geübt darin, zu kämpfen.

Verblassende Erinnerungen

Aber das glühende Herz Tschernobyls vergisst nichts und verblasst nicht. Und während der Reaktor in vergangenen Jahren schon mehrere Betonmäntel trug, die ihm immer noch nicht aus der Mode gekommen sind, wechselte die Mode meiner Jugend. Die Wildschweine strahlten in den Tiefen der europäischen Wälder, und wir wurden darüber belehrt, dass wir in den nächsten Jahren lieber keine Pilze mehr essen sollten. Da mein Vater es liebte, Pilze zu sammeln, hielten wir uns recht bald nicht mehr daran.

Der Wald trug reichlich Früchte, und die Wolke, die die ganze Welt umrundet hatte, und die ihren Ursprung zwischen den zerklüfteten Wänden des Reaktors nahm, war unsichtbar gewesen: nicht zu riechen, nicht zu spüren. Sie verblasste in unserer Erinnerung, weil wir sie verblassen lassen wollten.

In seltsamem Widerspruch dazu ebbte die Erinnerung an den Tag nie ab – an die Entspannung des Tages und an die Hektik, die später ausbrach. An die strengen Striche, in die sich die Münder meiner Eltern verwandelt hatten. Manchmal denke ich daran. Und fürchte mich. Es hat sich nicht so viel verändert, seit Tschernobyl sein Betonkleid zu tragen begann. (Julya Rabinowich, 28.4.2018)