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Die Nelke führt derzeit abseits des 1. Mai ein ziemliches Mauerblümchendasein, dabei gibt es keine Pflanze, die so menschlich ist wie die Nelke.

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Susanne Stephan, "Nelken. Ein Porträt". Berlin Naturkunden Nr. 41. € 18,50 / 160 Seiten. Matthes-&-Seitz- Verlag, 2018

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Was nach einem kleinen Umweg aussieht, führt doch mitten hinein in die Geschichte. Also fangen wir mit einer grünen Nelke an und nicht mit einer klassischen roten. Als Schöpfer der grünen Nelke gilt der große Oscar Wilde. Wohlgemerkt: als ihr Schöpfer, nicht als ihr Züchter. Denn die berühmte "green carnation", die der irische Schriftsteller 1892 zur Uraufführung seines Theaterstücks Lady Windermeres Fächer nicht nur einen der Schauspieler, sondern auch gleich ein ganzes Grüppchen seiner Anhängerschar tragen ließ, war entstanden, indem man weiße Malmaison-Nelken in grüne Tinte stellte und einfärbte.

Die grüne Nelke, ließ Wilde auf Nachfrage wissen, bedeute rein gar nichts, auch wenn Gott und die Welt sich nun genau diese Frage stellen würden. Vielmehr sei es der Künstler mit seinem Esprit und Schöpfergeist, welcher der Natur in ihrer vollkommenen Einfallslosigkeit auf die Sprünge helfen müsse. Die "butonnière", die Knopflochblume, für die maßgeschneiderte Sakkos bis heute eine Schlaufe an der Reversinnenseite haben, war für Wilde "die einzige Verbindung zwischen Kunst und Natur", die er gelten ließ.

Geliebt und bekrittelt

Die Nelke mag dem komplett naturdesinteressierten Wilde zufällig ins Knopfloch geraten sein. Dass ausgerechnet sie es tat, entspricht jedoch ziemlich punktgenau dem ambivalenten Symbolraum, der die Nelke umgibt. Wie kaum eine andere Blume befindet sie sich im Spannungsfeld zwischen Künstlichkeit und Natur, hochgelobt und -geliebt, ehemals in tausenderlei Sorten gesammelt, vielbekrittelt und -besungen, symbolisch und politisch vielfältig aufgeladen und vor allem hochgezüchtet bis zur fast völligen Plastifizierung.

Als geringgeschätzte, strammstehende "Kunstblume" unter den Gartenblumen dient sie heute – in ihrer reichen Geschichte verkannt und zumeist ihres früher berühmten, geistklärenden Duftes entkleidet – als Friedhofsblume und spießige Massenware für Billigsträuße. Das "Zarte, Wiegende", für das sie in der Blütezeit der Nelkenliebhaberei zwischen 1600 und 1850 so bewundert wurde, ist ihr gründlich ausgetrieben, sprich weggezüchtet worden. Warum gerade die Nelke dieses Schicksal ereilt hat? Weil Gartennelken sich so lange halten und weil sie so leicht Mutationen hervorbringen und Kreuzungen zulassen, aus denen neue Sorten entstehen können.

Gedankt hat man ihr das nicht. "Vom Menschen an die Leine genommen, folgt ihm willig die Nelke, bis die Mode vorüber ist und die Blume für ihre vermeintliche Charakterlosigkeit abgestraft wird, nicht der nach immer neuen Reizen verlangende Mensch." Genau darin sieht die deutsche Essayistin und Lyrikerin Susanne Stephan in ihrer famosen kleinen Kulturgeschichte Nelken den Kern der reichen Parallelgeschichte von Mensch und Nelke. Kaum nämlich hatte die wohlriechende Gartennelke, aus dem Osmanischen Reich kommend, im 15. Jahrhundert die Gärten der europäischen Aristokratie erreicht, "spaltete sie schon die Gemüter", wie Stephan schreibt. Für die einen "die Königin der Schönheit und der Blumen", galt sie stets auch – wie bei Shakespeare – als "Bastard" und Verrat an der Natur.

Kurz gesagt: Je mehr die Nelke dem Menschen in seiner Experimentierlust entgegenkam, desto mehr handelte sie sich neben Bewunderung auch Kritik ein. Und zwar ganz gleich ob bei Adel, Bürgertum oder Arbeiterschaft. Denn die Nelke, auch das beschreibt Susanne Stephan, wird im Lauf der Jahrhunderte wie viele andere neu in Europa eingeführte Pflanzen "von den oberen zu den unteren Schichten durchgereicht".

Jedenfalls gilt für sie ein Satz, mit dem die Autorin gleich eingangs einen bekannten Nelkenzüchter des 20. Jahrhunderts zitiert: "Es gibt keine Pflanze, die (...) so menschlich ist wie die Nelke." Im Lauf ihres wunderbar und facettenreich dahinmäandernden Blumenessays, der übrigens auch die deutlich anders gelagerte Kulturgeschichte der Nelken in Japan in den Blick nimmt, kommt Susanne Stephan mehrmals auf diesen Punkt zurück.

Vielfaches Symbol

Aus ihrem Nelkenporträt, das diese Woche als 41. Band der grandiosen "Naturkunden"-Reihe des Berliner Matthes-&-Seitz-Verlags erscheint, erfährt man, was die Nelke, abseits ihrer im 19. Jahrhundert angenommenen Paraderolle als Symbol von Arbeiterbewegung, Sozialismus und Kommunismus, nicht schon alles war: Emblem für Freimaurer, Antisemiten und Revolutionäre, Plastikansteckstaatsblume der DDR, Kennzeichen für erfolgreich absolvierte Prüfungen von Oxford-Studenten, hinters rechte oder linke Ohr gesteckter Hinweis auf erotische Verfügbarkeit, Marienblume in Madonnendarstellungen, Inbegriff von Weiblichkeit oder Ausdruck äußerster kultureller Verfeinerung.

Darf man keine Nelke pflücken?

In der frühen Neuzeit stand die Nelke, an der Seite wohlhabender Bürger und Händler in Öl gemalt, für deren Heiratsabsichten und symbolisierte bald in Romanen und Gedichten nicht mehr nur die Ankündigung ehelicher Freuden, sondern auch deren vor- und außerehelichen Genuss. Die Blume mit dem zarten, gefiederten Kopf, die die gelehrten "Blumisten" des 17. und 18. Jahrhunderts in tausenderlei immer bunteren Sorten zu riesigen Sammlungen zusammentrugen und in "Nelkentheater" genannten Etageren präsentierten, wurde also, so Susanne Stephan, zur "Vor- und Nebenrose" umgedeutet – und damit zum "leichten Mädchen". Eine "Nelkenepisode" durfte fürderhin als unverbindlich betrachtet werden. Das tat zweifellos auch Gottfried Benn, als er in den 1950er-Jahren seine außereheliche Affäre mit einer Kellnerin blumenpoetisch rechtfertigte: "Darf man keine Nelke pflücken, / weil man eine Rose trägt ..." Und Joachim von Ribbentrop, damals deutscher Botschafter in London, soll Wallis Simpson, die angeblich nicht nur mit dem Prince of Wales, sondern auch mit ihm ein Verhältnis hatte, täglich 17 weiße Rosen geschickt haben – für jede gemeinsam verbrachte Nacht eine.

Auch wenn die Nelke derzeit abseits des 1. Mai ein ziemliches Mauerblümchendasein fristet und die meisten der alten, duftenden Gartennelken nirgends mehr zu bekommen sind, eines hat sie uns auf jeden Fall hinterlassen: den Namen einer Farbe. Und zwar weder Grün noch Rot. Sondern Pink. Denn "pinks" heißen die – oft pinken – niedrigen unter den Gartennelken auf Englisch. Ihnen verdankt die Farbe ihren Namen. Nicht umgekehrt. (Julia Kospach, 1.5.2018)