Wien – Marina Abramović ist schon da. Der Aufzug noch nicht. "Ah! Ich glaube, Sie wollen zu mir", witzelt sie, hält dem bepackten Kamerateam die Tür auf. So geht Superstar. Kein herumwuselnder Assistent zwischen ihr und der Welt, keine Sonnenbrille, die ihre wachen olivbraunen Augen versteckt. Abramović ist ganz Profi, aber ihre Laune passt nicht nur zum Wetter: "Wenn die Liebe von innen kommt, dann strahlst du wie die Sonne und dann ist man bereit, die Welt zu lieben", wird die 71-Jährige nur ein paar Minuten später sagen. Und auch, dass man sich – "selbst wenn man alt ist" – den neugierigen Blick eines neugeborenen Kindes bewahren soll. Sie hat.

Marina Abramović: Portrait with Maracas, 2006.
Foto: © Marina Abramovic Courtesy of the Marina Abramovic Archives

Es ist dieser Blick, der 2010 bei ihrer 721 Stunden dauernden Performance The Artist Is Present im New Yorker Museum of Modern Art (Moma) die Massen emotional hysterisierte und die serbischstämmige Künstlerin zur Königin ihrer Disziplin machte. In radikalen Performances hatte sie seit den 1970ern körperliche und seelische Grenzen ausgelotet, sich selbst zum Material gemacht. Nun saß sie stumm dort, Angesicht zu Angesicht mit insgesamt mehr als 1500 Menschen. Was sie ihrem Gegenüber gab, waren Zeit und Aufmerksamkeit, Verletzlichkeit und Offenheit, kostbare Geschenke in unserer Zeit.

"The Artist is Present", Performance, 3 Monate, The Museum of Modern Art, New York, 2010
Foto: © Marco Anelli Courtesy of the Marina Abramoviæ Archives VG Bild-Kunst, Bonn

"Die Technologie hat so viele Gefühle ersetzt. Es ist so befremdlich, dass die Leute keinen Augenkontakt, keinen emotionalen Kontakt mehr haben, sich nicht umarmen, sich nicht küssen." Das Publikum "in Kontakt mit sich selbst" bringen, dass war auch ihr Anliegen 2014, als sie das Publikum in 512 Hours zu einer Art von zenbuddhistischen Happenings in die Londoner Serpentine Gallery lud. Vernichtende Kritiken sprachen von einem großen "Nichts", obwohl die Intensität solcher Experimente stark von der Resonanz ihrer Teilnehmer abhängt.

Selfie-Jünger

Für ein paar Minuten mit Marina Abramović hatten die Besucher 2010 sogar vor dem Moma gecampt; Isomatten rollte letzte Woche in Wien zwar niemand aus, der Ansturm auf die Galerie Krinzinger war zur Vernissage dennoch gewaltig. Schon 2012, kurz bevor die Dokumentation The Artist is Present in den heimischen Kinos anlief, lauerten Menschentrauben vor der Tür. Heuer – 5600 Menschen hatten sich auf Facebook angekündigt – hofften rund 400 Menschen, überwiegend junge Frauen, auf dem Trottoir auf Einlass, während sich oben bereits Hunderte für ein Selfie oder ein Autogramm drängten; auch der eine oder andere Kurator machte später im Schweiße seines Angesichts Beute, bis Abramović durch eine Hintertür verschwand.

Nicht Merkel-Raute, sondern V for Vagina: Marina Abramović formt das Dreieck – ein uraltes Zeichen für Weiblichkeit.
Foto: APA / Georg Hochmuth

Abramović, für die drei Securitys engagiert wurden und die mit Lebensgefährte und Make-up-Artist angereist ist, schlendert lachend auf die Galerie zu, teilt sich in freundlichen Imperativen mit – "Vergesst nicht, zärtlich zu sein!" -, und dann, als die Eröffnungsrednerin ausfällt: "Was wollt ihr wissen?" Okay: Abramović liebt also das österreichische Essen, die Küche ihrer Großmama. Tafelspitz. Salzburger Nockerln. Mohnstrudel. "Das Erste nach dem Aufwachen? Was ich tue, wenn mein Freund da ist, verrate ich nicht." Verheißungsvolle Botschaften. Die Meute bekommt jetzt Appetit.

Aber seit dem irrsinnigen Erfolg der Moma-Peformance kennt Abramović auch die Schattenseiten ihrer Popularität. "Wen kümmert mein in der Oper verlorener Ohrring?", ärgert sie sich über den Mist in den Zeitungen oder ihre persönliche Wikileaks-Affäre. US-Rechte hatten eine E-Mail-Einladung an Hillary Clintons Wahlkampfleiter für ein "Spirit Cooking Dinner" als "satanische Praxis" dargestellt. So etwas lenke von der Essenz ihrer Arbeit ab, sagt Abramović. Andererseits verleiht ihr die Bekanntheit eine Plattform, um über den "Spirit" zu reden: "Meine Stimme wird gehört." Die Beziehung zum Publikum sei wichtiger als Fake News.

Spirit of unbehaglich

Das Spirituelle, der esoterische Impuls in Abramovićs Spätwerk, ihre Kraft und Willensstärke, ist den Leuten weniger geheuer als die (selbst)verletzenden Performances der frühen Jahre, das Sich-Ritzen, Auspeitschen, Auf-Eis-Legen, An-Wände-Prallen, Knochenschrubben, Werke, auf die die große, gerade in Bonn gastierende Retrospektive zurückblickt.

"Balkan Baroque", Performance, 4 Tage, 6 Stunden, 47. Biennale Venedig
Foto: Courtesy of the Marina Abramovic Archives VG Bild-Kunst, Bonn

Die geballten Emotionen, das Weinen der Menschen, die mit ihr in New York still zusammensaßen, scheint hingegen unheimlich. Blut wirkt auf die Menschen wohl unmittelbarer als der unsichtbare, aber fast ohnmächtig machende Schmerz tagelangen Stillsitzens. 16 Tage lang saß sie 1981 jeweils acht Stunden mit Ulay regungslos an einem Tisch: Er ertrug den Schmerz nicht, unterbrach zwei Mal. Sie hätte auch abbrechen müssen, warf er ihr im Streit vor.

Ego oder Authentizität

"Schamanin", "Guru", ätzt bisweilen das Feuilleton, verspottet das Marina Abramović Institute als "Ashram". Man lästert über Fundraising-Kooperationen wie jene mit Adidas, Lady Gaga und Jay Z. Ihr Faible für Mode: verdächtig. Wie sehr darf sich eine wahrhafte Künstlerin, die "durch den Schmerz hindurchgegangen" ist, für Oberflächen interessieren? Ist ihre Arbeit durch Schönheitseingriffe weniger authentisch? Und anfassen, das ist doch wohl bei jemandem, der seinen Körper als Medium nutzt, erlaubt, oder nicht?

Honey Artists

Auffallend oft sind die Kritiker männlich. Auch in Wien. Frauen schwärmen hingegen von Authentizität, Nahbarkeit, Charme. "Wenn dein Ego so hinaufschnellt, kann das gefährlich werden. Aber mein Erfolg kam so langsam, auf mich hat das keine Wirkung." Das Spätwerk sei eitel, raunt es. In einer Fotoserie (Carry Elvira, 2006) hält Abramović eine ältere Frau wie in einer Pietà die Madonna den Leichnam Christi, präsentiert in Vladkka wie Maria den Jesusknaben ein nacktes Baby und deutet auf dessen Vagina.

"Vladkka", 2007
Foto: Courtesy the artists and Galerie Krinzinger

Huldigungen des Weiblichen. Ihr Geschlecht hatte lange keine Bedeutung. Sie begriff sich als "weiblich und Künstlerin", nicht jedoch als "weibliche Künstlerin". Dass sie nun – gealtert – nicht auf Darsteller zurückgreift, die für ihre Bildideen posieren, ist nur logisch. Ihre Themen haben sich immer aus ihr selbst heraus entwickelt.

Opfer der Liebe

Es gibt aber auch jene in Wien, die sich Drama von Abramović wünschen. Schließlich hat die Künstlerin in Robert Wilsons The Life and Death of Marina Abramović ihre eigene Mutter gegeben und will sich für das Projekt 7 Deaths 2020 als tragische Opernheldinnen – als Carmen, Desdemona, Norma etc. – , allesamt Opfer der Liebe, inszenieren.

Im Kunsthistorischen Museum wird ihr von einer privaten Denkwerkstatt ein Lebenswerkpreis verliehen. Für die Überreichung von Urkunde und Sechs-Kilo-Bronzefigur lockt man die Festgäste mit einer Callas-Arie vom Kuppelsaal auf die Prunkstiege, Bläser begleiten die Zeremonie. Dort postiert man die Künstlerin vor Canovas gigantischer marmorner Theseusgruppe mit dem den Zentauren niederknüppelnden Theseus.

Dort wird die große Marina ganz klein, wirkt mit den verschränkten Händen beinahe wie ein schüchternes Chormädchen. "Wien hat wunderbare Arten der Inszenierung", spielt sie humorvoll auf die peinliche Theatralik an, jetzt stehe sie hier vor diesem Mord. Und dann endet die routinierte Abramović-Show ganz demütig: "Ich hoffe, ich setze mein Werk in Zukunft fort, ohne irgendjemanden zu enttäuschen." (Anne Katrin Feßler, 30.4.2018)