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Anhänger des Oppositionsführers Nikol Pashinjan protestieren schon seit Tagen in Armenien.

Foto: REUTERS/Gleb Garanich

Eriwan – Nikol Pashinjan, der Führer der Protestbewegung im Kaukasusstaat Armenien, will heute im Parlament zum neuen Regierungschef gewählt werden. Dafür braucht er die Unterstützung der bisher regierenden Republikanischen Partei, die der 42-Jährige bekämpft.

Der Österreicher Moritz Lenglachner lehrt seit 2016 an der Staatlichen Brjussow-Universität im armenischen Eriwan. Zu Beginn der Proteste, sagt Lenglachner, "war die Bewegung beschränkt auf junge Armenier, Studenten vor allem. Dann ist es richtig angeschwollen". Nun seien Leute aller Altersklassen unterwegs. Er sieht eine Wahl Pashinjans als wahrscheinlichstes Szenario.

STANDARD: Was wird der Tag in Eriwan heute bringen?

Lenglachner: Um 12 Uhr gibt es die Abstimmung im Parlament über einen neuen Regierungschef. Zwei Möglichkeiten: Nikol Pashinjan wird gewählt, er ist ja der einzige Kandidat. Das ist das wahrscheinlichere Szenario, weil die bisher regierende Republikanische Partei zwar Kooperation signalisiert hat, aber die Mehrheit hat und für längere Zeit auch noch haben wird. Neuwahlen sind kostspielig, die Republikaner könnten eine Oppositionsrolle gegen Pashinjan übernehmen, was für den Premier dann schwierig wird.

STANDARD: Erst muss Pashinjan aber gewählt werden, und eine eigene Mehrheit hat er im Parlament nicht.

Lenglachner: Die Unterstützung von drei Parteien hat Pashinjan – von seiner eigenen Fraktion Yelq, vom großen Block von Tsarukian und von den Nationalisten der Dashnaktsutjun. Die Republikaner haben keine aktive Unterstützung bekundet. Sie könnten sich enthalten, aber das wird wohl nicht passieren. Dann gäbe es eine zweite Abstimmung im Parlament eine Woche später und Neuwahlen, wenn der Kandidat erneut keine Mehrheit hinter sich bringt.

STANDARD: Wie ist die Stimmung auf den Straßen?

Lenglachner: Euphorisch! Man kann es nicht anders beschreiben. Zu Beginn der Proteste, am 13. April, war die Bewegung beschränkt auf junge Armenier, Studenten vor allem. Dann ist es richtig angeschwollen. Mittlerweile sind Leute aller Altersklassen unterwegs. Es gibt meinem Eindruck nach nahezu niemanden, der die Bewegung nicht unterstützt.

STANDARD: Was ist mit den Leuten passiert, die über Jahre die Republikaner gewählt haben? Sind die verschwunden oder haben sie die Seiten gewechselt?

Lenglachner: Von den überzeugten Anhängern der Republikaner erwartet man sich jetzt nicht viel. Aber wenn man mit den Menschen spricht, dann fällt immer dasselbe Stichwort "Mafia". Die Republikaner hatten plus minus zwei Dekaden Zeit, um das Land voranzubringen, aber de facto, so heisst es, ist nichts passiert. Die Regierenden hätten sich nur bereichert, und jetzt ist es genug. Die Zivilgesellschaft ist aufgestanden. Aber rein rechnerisch muss es auch ehemalige Befürworter der Republikaner unter den Protestierenden geben. Die Menge ist einfach zu groß. Am Anfang waren die Menschen, im Stadtzentrum von Eriwan vor allem, noch verhalten. Man hat sich noch nicht getraut, zu demonstrieren, weil man gefürchtet hat, danach den Job zu verlieren. Aber als die Bewegung groß geworden ist, sind auch diese Leute hinausgegangen. An unserem Lehrstuhl war es ähnlich. Zuerst waren es die jungen Leute, die demonstriert haben, danach auch die Zögerlichen.

STANDARD: Pashinjan, der Führer der Protestbewegung, ist ja nun im Parlament politisch von einem großen Geschäftsmann abhängig, dem reichsten Mann Armeniens, Gigak Tsarukian, einem ehemaligen Verbündeten der Regierung und der Chef der Partei Wohlhabendes Armenien. Das ist ja eine seltsame Verbindung oder?

Lenglachner: Tsarukian gehört alles im Land, so heißt es in Armenien. Aber er hat die Zeichen der Zeit erkannt und sich auf die Seite der Protestbewegung geschlagen.

STANDARD: Wie würden Sie Pashinjan bezeichnen – proeuropäisch und russlandkritisch, links, rechts?

Lenglachner: Pashinjan ist absolut ernst zu nehmen als Politiker. Er ist weder proeuropäisch noch russlandkritisch. Er ist ein Realist, würde ich sagen. Pashinjan hat auch gestern, als er sich der Fraktion der Republikaner als Kandidat für das Regierungsamt vorgestellt hat, gesagt, dass er die wirtschaftlichen und militärischen Verbindungen zu Russland nicht einschränken möchte. Die Verhältnisse sind hier nun einmal so. Ein Armenien ohne Unterstützung durch Russland ist nicht möglich. (Markus Bernath, 1.5.2018)