Der Kunsthändler René Gimpel (links) und seine jungen Labour-Mitstreiter auf Stimmenfang im feinen Londoner Bezirk Kensington.

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Die Wahllokale sind bis 22 Uhr Ortszeit (23 Uhr MESZ) geöffnet.

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So, jetzt nur noch Onslow Crescent, dann ist der Wahlkampf für heute erledigt, und die fünf Labour-Aktivisten können endlich den lauen Frühlingsabend genießen. Frohgemut marschiert das Grüppchen die Old Brompton Road im feinen Londoner Bezirk Kensington entlang, biegt in die Gasse ab – und steht vor einem verschlossenen Tor. Dahinter sind sauber aufgereiht italienische Sportwagen geparkt, das Gelände gehört dem örtlichen Gebrauchtwagenhändler. Der Zugang zu den Wohnhäusern befindet sich 200 Meter weiter auf der anderen Seite des Blocks.

Großer Enthusiasmus, mangelnde Ortskenntnis – die kleine Szene symbolisiert die Anstrengungen der oppositionellen Labour-Party vor der Kommunalwahl am Donnerstag in vielen englischen Bezirken, nicht zuletzt in der Hauptstadt, wo sämtliche Stadträte zur Wahl stehen. Insgesamt geht es landesweit um gut 4.000 Mandate, die Wahl gilt als wichtiger Stimmungstest für die konservative Minderheitsregierung von Premierministerin Theresa May. Die Tories müssen sich auf eine Ohrfeige gefasst machen: Zwischen Unterhauswahlen pflegen die Wähler auf der Insel meist die Opposition zu stärken.

Fest in Tory-Hand

Auch im Onslow Crescent? Eigentlich ist die Gegend zwischen den U-Bahn-Stationen Gloucester Road und South Kensington "nicht gerade Labour-Territorium", sagt der Stadtratskandidat René Gimpel in feinem englischem Understatement. Seit Menschengedenken wird Courtfield, wie das Viertel amtlich heißt, von Abgeordneten der konservativen Regierungspartei im Bezirksparlament vertreten. Ganz Kensington war stets fest in Tory-Hand.

Diesmal aber wittert die Opposition Morgenluft. Bei der Unterhauswahl im vergangenen Jahr holte die Labour-Kandidatin Emma Dent Coad sensationell das Mandat mit einem Vorsprung von gerade einmal 20 Stimmen. Wenige Tage später stand hier der Grenfell-Tower in Flammen. Das Inferno tötete nicht nur 71 Bewohner und machte hunderte obdachlos; es zerstörte auch den Ruf der Bezirksregierung, die offenkundig die Anliegen ihrer ärmeren Bewohner jahrelang ignoriert hatte.

Stimmberechtigte EU-Bürger könnten Ausschlag geben

Im Courtfield-Viertel leben die meisten Menschen auf der Sonnenseite. Sie registrieren die wachsende Zahl von Einbrüchen, ärgern sich über Mängel bei der Müllabfuhr und sorgen sich um die Auswirkungen des Brexits. Auf all das nimmt das Flugblatt Bezug, das der vornehme Kunsthändler Gimpel und seine jungen Mitstreiter den Einwohnern in die Hand drücken. Dass es am Ende im Courtfield-Viertel für ein Mandat reichen wird, ist zwar eher unwahrscheinlich, "aber wir wollen auf jeden Fall die Mehrheit der Torys deutlich reduzieren".

Anderswo wackelt die Tory-Vorherrschaft sogar. Labour macht sich Hoffnung auf die Rathäuser von Wandsworth, Barnet und Westminster ebenso wie in Kensington, auch außerhalb der Hauptstadt könnten die Wähler die Regierungspartei abwatschen. Nicht zuletzt haben diesmal, anders als bei der Unterhauswahl, die mehr als drei Millionen in England lebenden EU-Bürger Stimmrecht. In Bezirken mit knappen Mehrheitsverhältnissen "könnten sie den Ausschlag geben", sagt Professor Tony Travers von der London School of Economics.

Ukip-Debakel erwartet

Umworben werden Polen, Franzosen und Deutsche von Labour und besonders von den Liberaldemokraten, die als einzige der größeren Parteien einer zweiten Volksabstimmung über die EU-Mitgliedschaft das Wort reden. Eine Stimme der Europäer für die Torys hingegen sei "schwer vorstellbar", glaubt Travers – allzu sehr wird die Partei mit Mays hartem Brexit-Kurs identifiziert.

Paradoxerweise könnte das den Konservativen in ländlichen Bezirken und nordenglischen Gemeinden zugute kommen. Als die jetzt zur Wahl stehenden Mandate vor vier Jahren zuletzt vergeben wurden, wurde nämlich die EU-feindliche Ukip im Sog der Europawahl mit 22 Prozent drittstärkste Kraft und holte 126 Mandate. Diesmal dürfte sich das Ukip-Debakel vom vergangenen Jahr wiederholen, als die führungslosen EU-Hasser einbrachen und lediglich ein Mandat halten konnten.

Uneinigkeit in großen Lagern

In den Tagen vor der Wahl boten sowohl Torys wie Labour, einst für eiserne Disziplin bekannt, ein Bild der Uneinigkeit. Bei den Torys streiten sich Brexit-Hardliner wie Jacob Rees-Mogg öffentlich mit Befürwortern einer engen Anlehnung an die EU. Labour-Chef Jeremy Corbyn hingegen wird immer wieder mit Vorwürfen konfrontiert, er gehe nicht hart genug gegen Antisemiten in den eigenen Reihen vor.

Wahlkämpfer Gimpel lässt sich davon nicht beirren. An den Wohnungstüren spiele das Thema "kaum eine Rolle", sagt er. Und wenn doch, bringt der Sprössling einer jüdischen Familie aus dem Elsaß seine eigene Herkunft ins Spiel: "Das hilft natürlich, weil es demonstriert, dass Tausende wie ich gerade deshalb bei Labour mitmachen, weil es keine antisemitische Partei ist." (Sebastian Borger, 3.5.2018)