Wien – Ein Schlaflied, das aus den Tiefen der Erinnerung kommt. "Kabeljau schwimmt nach Haus / Elephant läuft nach Haus / Ameise rast nach Haus ... Der Tag ist aus" – das Abendlied von Hanns Dieter Hüsch erschallt aus jenem Radio, das Georg (Franz Rogowski) gerade erst wieder zum Laufen gebracht hat. Er kennt es aus seiner Kindheit und singt mit, die Stimme heiser, verhalten.

Im sonnendurchfluteten Marseille, für immer gestrandet: Paula Beer und Franz Rogowski in Christian Petzolds Flucht- und Wartedrama "Transit".
Foto: Stadtkino

Der Film steht einen Augenblick lang still, gespenstisch still, möchte man sagen. Das Radio, der Held, der Ort – die Wohnung einer Familie aus dem Maghreb -, das Lied: Nichts passt hier eigentlich zusammen, alles ist ein wenig aus dem Takt – und doch stimmig.

Christian Petzolds Transit ist ein Film, der sich zwischen den Zeiten, zwischen gestern und heute einrichtet. Die Handlung entstammt Anna Seghers' gleichnamigem autobiografischem Roman, der von einer Gruppe Deutscher erzählt, die 1941 auf der Flucht vor den Nazis in Marseille gestrandet sind. Sie wollen weiter nach Amerika, aber die Lage ist kompliziert. Die Stadt wird zur Wartehalle, in der sich die Zeit in alle Richtungen ausdehnt.

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Petzold hat die Geschichte um den flüchtenden Georg, der in der Hafenstadt in die Identität des verstorbenen Schriftstellers Weidel schlüpft und dort auf dessen Frau Marie (Paula Beer) trifft, in eine Parallelwelt verlegt. An Orten wie der Pizzeria Mont Ventoux wirkt Marseille wie konserviert, insgesamt trägt es jedoch mehr die Züge der Gegenwart. Es fehlen Patina, Settings und Verzierungen des historischen Dramas. Die "Flics" sind eindeutig von heute, auch nach Frankreich Geflohene finden sich ein, irritierenderweise neben jenen, die schon immer von hier fortwollten. Eine Ära liegt wie eine Folie über der anderen.

Verjüngung eines Genres

Petzold gelingt mit diesem Manöver eine so kluge wie folgenreiche Verschiebung. Einerseits befreit er ein Genre aus seiner schwerfälligen Motorik, sodass es politisch wie verjüngt, offen für vergleichbare Lebenserfahrungen erscheint. Selbst die Konvention der Voice-overs, die er immer ein wenig verschoben einsetzt, wirkt nicht mehr angestaubt, sondern eher wie ein Zitat. Die Ungleichheiten, die Furcht und Ungeduld der Figuren bleiben in der Gegenwart bestehen, der Einblick in die eigene Lage hat sich allerdings nicht verbessert.

Den Eindruck, dass Menschen nicht dort hingehören, wo sie sind, kennt man schon aus anderen Filmen des 57-jährigen Deutschen: In Yella begibt sich die Titelheldin in die neue, aseptische Arbeitswelt Westdeutschlands, in der sie nie richtig anzukommen scheint. Auf vergleichbare Weise war schon die Familie aus Die innere Sicherheit aus der Gegenwart gefallen – nicht nur aufgrund ihrer politisch radikalen Vergangenheit. Seinen Film über die Arbeitsnomaden in Berlin nannte Petzold überhaupt gleich Gespenster.

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"Das Gefühl des Gespenstischen stellt sich dann ein", schreibt der britische Kulturkritiker Mark Fisher, "wenn entweder etwas da ist, wo nichts sein sollte, oder wenn nichts da ist, wo doch etwas sein sollte." Die Handlungsmacht der Figuren, die in der "falschen" Zeit gestrandet sind, gerät wie in einem modernen Film noir in die Krise. Sie sind da, aber seltsam machtlos; sie stehen, wie Fisher notiert, "außerhalb ihrer selbst", sind sich "selbst ein Rätsel". Georg und Marie erscheinen wie von einem unbekannten Außen gelenkt, dazu gezwungen, sich durch ein lichtdurchflutetes Schattenreich zu bewegen, in dem sich der Ausweg immer wieder wie eine Türe schließt.

Es ist somit die Vergangenheit selbst, die sich in Transit als ewiger Aufschub manifestiert, als Hölle, der man nicht entkommt. Petzold hat Seghers' Roman in einem Interview aber auch mit dem Kino selbst verglichen, welches als Medium wesenhaft mit An- und Abwesenheiten verbunden ist. Hier wird es zu einem Raum, in dem die Geschichten der Abwesenden, der Gespenster, auf die Anwesenden, also auf alle weiterhin Flüchtenden, zurückstrahlen. Das Gespenstische vermittelt uns bei Petzold paradoxerweise gerade erst jenen Horizont, zu dem uns der existenzielle Zugang fehlt – es "gehört ein Gefühl der Andersheit dazu, ... das jenseits unserer Erfahrung liegt", so Fisher.

Was Petzolds Gespenster am Ende so unverwechselbar macht, ist nämlich ihr Hunger nach Leben. Sie sind keine Phantasmen, die in unbelebten Landschaften auf Erlösung warten, ganz im Gegenteil: Sie sind immer am Aufbrechen. Sie wollen fort, um am Dasein teilzuhaben. Sie wollen endlich Menschen sein. Vielleicht ist deshalb eine der umstrittensten Szenen von Transit auch eine der besten: Georg öffnet die Tür einer Wohnung, und eine unbekannte afrikanische Familie blickt ihm mit fragenden Augen entgegen. (Dominik Kamalzadeh, 3.5.2018)