Bild nicht mehr verfügbar.

Als Übersetzer gerühmt, als Essayist und Autor gefeiert: hier ein Bild von Georges-Arthur Goldschmidt aus dem Jahr 1991.

Foto: Corbis / Getty / Sophie Bassouls

Wien – Der Schriftsteller und Übersetzer Georges-Arthur Goldschmidt, geboren 1928 in Hamburg, überlebte den Krieg und die deutsche Besatzung in den französischen Alpen, dann kam er nach Paris. In Erzählungen wie Die Absonderung, Die Befreiung oder Der Ausweg schreibt er vom Drama des Überlebens. In der Autobiografie Über die Flüsse berichtet er auch von der Wiederbegegnung mit Deutschland nach dem Krieg. In dem soeben erschienenen Buch Die Hügel von Belleville erzählt Goldschmidt erstmals von seiner Zeit als französischer Soldat in Karlsruhe.

STANDARD: Sie mussten 1938 Hamburg verlassen und sollten Ihre Eltern nicht wiedersehen. Wussten Sie, dass es ein endgültiger Abschied war?

Goldschmidt: Ja, da musste ich von Hamburg weg. Normalerweise hätte ich vor Kummer umkommen müssen. Aber ich habe mich auf die kleinsten Details fixiert: Das Licht im Bahnhof – es schien keine Sonne, es war halb grau, ich stand am letzten Bahnsteig. Ich weiß von diesem Tag jede kleinste Einzelheit. Das war ein Schutz gegen Heimweh. Es ist wahrscheinlich der entscheidendste Tag meines Lebens gewesen. Ich wusste instinktiv, dass ich nie wieder zurückkommen würde. Und ich bin auch nicht zurückgekommen.

STANDARD: Während des Krieges waren Sie in einem Internat in den französischen Alpen. Wie haben Sie die deutsche Besatzung überlebt?

Goldschmidt: Die Italiener hatten Hochsavoyen zwei Jahre lang besetzt. Sie ließen die örtlichen Juden in Ruhe. Im 1942 kamen die Deutschen, und dann war die Hölle los. Das Internat war schwierig zu erreichen, sie mussten bei der Gendarmerie fragen, wo es war. Und währenddessen haben die Polizisten in das Internat telefoniert: "Achtung, die Deutschen kommen rauf!" Die Leiterin hat mich aus dem Mathematikunterricht geholt. Da war ein schmaler Weg, auf dem kamen mir zwei deutsche Soldaten entgegen, die mit dem kleinen schwarzen Loch der Maschinenpistole auf mich zielten, und ein jüngerer Offizier. Und der hat sich an die Seite gedrückt, damit ich vorbeikonnte. Er hat mich geflissentlich übersehen.

STANDARD: Aber einmal sind Sie denunziert worden.

Goldschmidt: Von der Köchin des Internats. Sie hat uns für 300 Francs verkauft: mich, den österreichischen Widerstandskämpfer von Versbach und seinen Freund Baron von Frankenstein. Beide waren Englischlehrer in diesem Internat. Nach der deutschen Besatzung musste die Köchin vor den französischen Gendarmen fliehen: Sie war an einen Heizkörper angebunden und riss diesen aus der Wand und ist damit kilometerweit gelaufen. Sie haben sie dann aber abgeknallt. Ich bin noch hingegangen und wollte den Gendarmen bitten, ihr das Leben zu schenken. Sie hat mich zwar denunziert, aber für mich war es unerträglich, mir vorzustellen, dass sie deswegen sterben könnte. Wissen Sie, die richtigen Widerstandskämpfer und die wirklichen Opfer haben nie gewollt, dass die Denunzianten umkommen.

STANDARD: Die Nazi-Zeit konnte Ihnen offenbar Ihre deutsche Sprache nicht vergällen – Sie sind Deutschlehrer geworden.

Goldschmidt: Ich habe 1950 an der Sorbonne ein Deutschstudium begonnen, ohne mir weiter Gedanken zu machen. Ich hatte gar nicht realisiert, wie sehr die Hitler-Sprache das Deutsche beschädigt hat. Ich habe das irgendwie unterdrückt – vielleicht, um mein Deutsch nicht zu verlieren. Ich wollte nichts davon wissen. Bis 1960. Dann habe ich ein Buch über Heidegger und die deutsche Sprache herausgebracht. Das ist der Nazi an sich.

STANDARD: 1949 haben Sie dann Ihre erste Reise nach Deutschland, nach Hamburg gemacht. Was bekamen Sie da zu sehen?

Goldschmidt: Ich kam in Hamburg an, der Zug beschrieb eine riesige Kurve die Elbe entlang, und da stand Hamburg, nur meine liebe Katharinenkirche fehlte. Ich ging in meine ehemalige Straße, alle Häuser standen da, aber da waren nur die vier Mauern mit dem glasierten Backstein und diesen grünen Kupfertropfen – weil Grünspan drauf war, wie Brei heruntergeflossen. Und innen war alles völlig hohl. Hamburg war von Brandbomben zerstört worden. Man hauste unter Ruinen.

STANDARD: Sie haben erlebt, dass in Deutschland stark über die eigenen Leiden geklagt wurde.

Goldschmidt: In Deutschland gab es nur Opfer, die nichts gesehen hatten, nichts wussten und so ungeheuer bemitleidenswert waren. Aber kein Wort über die Zeit vor 1945! Ich habe von keinem Menschen verlangt, dass er sich zu seiner Schuld bekennt. Jedes Mal, wenn ich eine Lesung in Deutschland hatte, stand jemand auf und fragte: "Herr Goldschmidt, was denken Sie über die deutsche Schuld?" Da sage ich immer: "Hören Sie auf, sprechen Sie von politischer Verantwortung, aber nicht von Schuld."

STANDARD: Wie sind Sie dann zum Übersetzer geworden?

Goldschmidt: Aus reinem Zufall. Mein Verleger suchte einen Übersetzer für Peter Handkes Begrüßung des Aufsichtsrates. Weil es so dünn war, habe ich gesagt: "Das mache ich." Und so kam ich zu Handke und zum Übersetzen. Später musste ich Nietzsche und Kafka neu übersetzen, was ich unglaublich schön fand.

STANDARD: Was ist es für ein Gefühl, 90 Jahre alt zu werden?

Goldschmidt: Irrsinnig komisch. Fast ein Jahrhundert hinter sich zu haben, finde ich absurd und komisch. Ich empfinde das Alter nur dadurch, dass ich nicht mehr so gut gehen kann, dass meine Frau Schmerzen hat und dass ich viel weniger essen darf. Ich habe überhaupt keine Angst vor dem Tod. Das Einzige: Früher brauchte ich manchmal zehn Jahre, um ein Buch zu schreiben. Der richtige Schriftsteller wartet, bis ihm das Zeug kommt. Heute kann ich mir das nicht mehr leisten. Entweder geht es sofort oder gar nicht.

STANDARD: Glauben Sie, dass auf die Welt, die Gesellschaft bessere Zeiten zukommen, als Sie sie erlebt haben?

Goldschmidt: Ich glaube wie jeder, der Deutsch kann, an die Endkatastrophe. Es wird bald neun Milliarden Menschen geben, und das kann nur schiefgehen. Man fühlt das hier trotz der Anstrengungen von Präsident Macron, der ein großartiger Mensch ist: Das wird irgendwie schiefgehen, weil etwas im Gären ist – keine aufklärerische Stimmung, sondern ein riesengroßer Protest gegen etwas, was man nicht versteht. Ich sehe die Zukunft ziemlich schwarz. Ich bin sehr froh, dass ich in zehn Jahren nicht mehr da bin. Und ich denke an meine Enkel – die werden ein schwieriges Leben haben. (Cornelius Hell, 4.5.2018)