STANDARD: Wir sind allein? Niemand dabei von Message-Control aus dem Kanzleramt?

Pilnacek: (lacht) Wüsste nicht, wer das sein sollte.

STANDARD: Ich habe Ihnen etwas mitgebracht. Sie dürfen es annehmen, der materielle Wert liegt weit unter der Korruptionsschwelle.

Pilnacek: Ah, das habe ich schon sehr lang nicht mehr gelesen.

Er arbeitet seit 26 Jahren in der Justiz, seit kurzem ist er Generalsekretär: Christian Pilnacek.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Kafkas "Prozess": Man kann in der Justiz verlorengehen, könnte man zusammenfassen.

Pilnacek: Ja. Man kann aber auch Karl Kraus zur Justiz lesen. Seine herrliche Geschichte etwa, in der er die Physiognomien der Landesgerichtsräte am Wiener Straflandesgericht beschreibt. (lacht) Es gibt sie heute noch.

STANDARD: Mir hat einmal ein Meinl-Beschuldigter den "Prozess" geschenkt. Die Meinl-Ermittlungen sind seit 2009 anhängig, bis zur Buwog-Anklage hat es rund neun Jahre gedauert. Sie kritisieren selbst, dass Verfahren lange dauern, und plädieren für Entschädigungen, wenn ohne Anklage eingestellt wird?

Pilnacek: Rechtspolitisch wäre das angemessen. Ich finde es schwer erträglich, dass Verfahren so lange dauern, da hat oft schon die Verfahrensdauer pönalen Chararakter.

STANDARD: Was würden Sie machen, kämen Sie als Beschuldigter in so eine Situation?

Pilnacek: Kämpfen.

STANDARD: "Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand", heißt es. Wie sieht das der höchste Beamte im Justizministerium?

Pilnacek: Ziel der Justiz muss sein, dass es genau so nicht ist. Die Justiz muss für vorhersehbare Entscheidungen sorgen: gut begründet, nachvollziehbar, transparent.

STANDARD: Apropos Gott. Sie gehen jeden Sonntag in die Kirche?

Pilnacek: Fast. Ich versuche, das einzuhalten.

STANDARD: Ich frage, weil es ungewöhnlich schwierig ist, Privates über Sie zu erfahren. Sie kommen aus einer katholisch-konservativen Familie, Ihr Vater war Verwaltungsdirektor des Hauses der Barmherzigkeit, einer Pflegeinstitution der Kirche, er ist beim Cartellverband und beim christlich-ritterlichen Lazarus-Orden.

Pilnacek: Ich komme aus einer katholischen Familie, konservativ würde ich gar nicht sagen. Wir konnten daheim alles offen und frei diskutieren. Aber ja, das Katholische hat mich sehr geprägt, ich war auch lang Ministrant.

STANDARD: Haben Sie nie revoltiert?

Pilnacek: Nein, ich war kein Revoluzzer. Ich habe auch nie an einer Demonstration teilgenommen. Aber ich habe mit den Geschichten von Revolutionen sowieso ein Problem, Revolutionen haben ja nie wirklich funktioniert.

STANDARD: Französische Revolution: nicht wichtig?

Pilnacek: Es sind große Ideen und Anstöße übriggeblieben, aber es wurde auch großes Leid verursacht. Ich frage mich, ob es einer Revolution bedarf oder ob man diese Ideen und Anstöße nicht anders gewinnen kann. Meist entstehen aus Revolutionen erst recht wieder totalitäre Systeme.

STANDARD: Samtene Revolutionen haben Sie auch nie angezettelt?

Pilnacek: In unserer kleinen Welt der Justiz schon, durch unsere Strafprozessreform. Die war so gesehen schon revolutionär. Da haben wir unser sehr konservatives Untersuchungsrichtersystem abgelöst durch ein System, in dem die Staatsanwaltschaft im Mittelpunkt steht und das Ermittlungsverfahren leitet. Und wir haben die Rechte der Beschuldigten und Opfer erstmals klar geregelt.

STANDARD: Ihr Vater war sozusagen auch karitativ tätig. Was tun Sie Gutes?

Pilnacek: Schwierige Frage. Wahrscheinlich viel zu wenig. Also, ich versuche, beruflich was Gutes zu leisten.

STANDARD: Was ist Ihnen da gelungen? Sie sind immerhin schon fast 26 Jahre im Justizministerium.

Pilnacek: Ich bin nicht unzufrieden, wir haben einiges erreicht. Aber es gibt immer wieder Phasen, in denen die Justiz nicht so gut dasteht, das hängt von äußeren Umständen ab. Gerade jetzt sind zwei Strafverfahren schiefgelaufen, die Causen Schönegger (Verdacht der verdeckten Parteispende an die ÖVP durch die Telekom, Anm.) und Ronnie Leitgeb (Villa Esmara, Verdacht der Untreue gegenüber der Immofinanz). Beide mussten in einem zweiten Rechtsgang wiederholt werden, und letztlich gab es Freisprüche. Bei Schönegger hätte der Oberste Gerichtshof den Schuldspruch aufheben und gleich einen Freispruch fällen können, statt die Wiederholung des Verfahrens zu verfügen. Aber natürlich sind die Gerichte unabhängig in ihrer Entscheidung.

STANDARD: Im Gymnasium in Wien-Ottakring: Haben Sie da viel mit Ihrem Schulsprecher Christian Oxonitsch gestritten, dem heutigen Noch-Klubchef der Wiener SPÖ?

Pilnacek: Wir haben politische Diskussionen geführt und waren verschiedener Ansicht. Für mich war die damals, 1983, zu Ende gehende SPÖ-Alleinregierung Bruno Kreiskys auch ein Zeichen für Versteinerung. Sie hatte 1970 mit großen Ideen begonnen, da ist gesellschaftspolitisch viel Notwendiges geschehen. Aber am Ende zeigten sich Verfallserscheinungen, ich erinnere nur an die Skandale um Noricum und Intertrading.

Bruno Kreisky im Jahr 1988 bei einer Ehrendoktoratsverleihung der Universität Wien.
Foto: APA/ROBERT JAEGER

STANDARD: Der Ära Kreisky verdanken viele den Zugang zur Bildung, Christian Brodas Familienrechtsreform brachte die Gleichstellung von Frau und Mann, und seine große Strafrechtsreform war epochal.

Pilnacek: Ich persönlich verdanke schon meinen Eltern, dass ich ins Gymnasium gehen konnte, nicht einer politischen Richtung. Das muss man schon sehen. Aber natürlich haben diese Reformen damals viel an Verkrustung aufgebrochen, da wurde der Versuch einer freien Entfaltung mit sozialer Absicherung unternommen.

STANDARD: Der Versuch ist doch gelungen?

Pilnacek: Vieles ist gelungen, definitiv.

STANDARD: Haben Sie je Rot gewählt?

Pilnacek: (lacht) Das sage ich jetzt nicht. Das ist nicht von besonderem Interesse.

STANDARD: Ich frage, weil Sie politisch schwer zuzuordnen sind, Sie gelten als ÖVP- oder FPÖ-nahe. Freiheitliche sagen aber, Sie seien sicher nicht blau, ÖVPler sagen, Sie seien sicher nicht schwarz. Sind Sie schwarz oder blau?

Pilnacek: Weder noch. Ich habe ganz bewusst kein Bekenntnis zu einer politischen Gesinnungsgemeinschaft abgegeben. So überzeugt war ich nie von einer politischen Richtung.

STANDARD: Josef Moser ist Ihr zehnter Justizminister ...

Pilnacek: Da muss ich nachzählen. Stimmt.

STANDARD: Nur Ihr erster Minister, Nikolaus Michalek, war ein Unabhängiger. Maria Berger war von der SPÖ, alle anderen von FPÖ, BZÖ oder ÖVP nominiert. Es ist Ihnen egal, wer unter Ihnen Minister ist?

Pilnacek: Nein. Ich habe das Verhältnis nie so definiert. Ich bin über die Jahre durch mein Wirken und mein Alter in wichtigere Positionen gekommen. Ich habe immer versucht, die politischen Vorgaben und Ziele des Ressortchefs oder der Ressortchefin möglichst gut umzusetzen. Loyal und oft auch intern warnend, dass man etwas besser nicht so machen sollte. Fiel die Entscheidung, es trotzdem zu tun, hab' ich's mitgetragen.

STANDARD: Ein Beamter im klassischen Sinn oder anpasslerisch?

Pilnacek: Ersteres. Ich versuche dem Ressortchef ein guter Berater zu sein.

STANDARD: Ihren größten Karriereschritt haben Sie der von der ÖVP nominierten Justizministerin Claudia Bandion-Ortner zu verdanken, sie hat Sie zum Supersektionschef gemacht, also zum Chef der von ihr zusammengelegten Sektionen für Straflegislative und Einzelstrafsachen ...

Pilnacek: Wenn man das als super bezeichnen will, ja. Es ist eine größere Sektion. Aber stimmt, für mich ist es eine Supersektion, ich mache das gern.

STANDARD: Sie arbeiten sehr viel, viele fragen sich, ob Sie manchmal schlafen ...

Pilnacek: Ja, ich schlafe ausreichend. Um die sieben Stunden täglich.

STANDARD: Man berichtet, dass Sie in Sitzungen manchmal einschlafen. So bekommen Sie die sieben Stunden zusammen?

Pilnacek: Ich bin sicher schon einmal eingeschlafen. Wenn's nicht besonders aufregend ist.

STANDARD: Mit Ex-Justizminister Dieter Böhmdorfer und seinem heutigen Kanzleipartner, dem Ex-FPÖ-Nationalratsabgeordneten Rüdiger Schender, sind Sie befreundet?

FPÖ-Anwalt und Ex-Justizminister Dieter Böhmdorfer bei der Pressekonferenz anlässlich des Urteils des Verfassungsgerichtshofs zur Wiederholung der Stichwahl der Bundespräsidentenwahl 2016.
Foto: Newald

Pilnacek: Böhmdorfer, der ja Wert darauf legt, nie FPÖ-Mitglied gewesen zu sein, war einer der Minister, die die stärkste Abgrenzung zwischen dem politischen Amt und der Fachebene hatten. Bei ihm durften Kabinettsmitarbeiter nie persönlich einen Sektionschef anrufen oder etwas fragen. Das hat er immer selbst gemacht. Er hat auch meinen Vorgänger hier nie zu sich ins Büro geholt, sondern ist zum Sektionschef in dessen Büro gegangen. Böhmdorfer hatte bei den Beamten intern einen guten Ruf, weil er nichts zugelassen hat, was sie hätte denken lassen, dass sie etwas Politisches umsetzen oder für Parteizwecke verwendet werden. Und ja, ich habe noch ein gutes Verhältnis zu ihm, mit Schender bin ich befreundet.

STANDARD: Justizminister Moser schafft die Hälfte aller Gesetze ab. Ist es nicht populistisch, Vorschriften zu kippen, die nicht in Gebrauch sind, und das dann Reform zu nennen?

Pilnacek: Es geht um den Rechtsbestand. Vielleicht ist es einfach ein Symbol: Man räumt auf, schafft Unnötiges weg, um Neues, Besseres zu schaffen. Das dient der Rechtssicherheit. Es ist wie beim Rasenmähen und Vertikutieren: Man tut es, damit Neues wachsen kann.

STANDARD: Mähen Sie daheim eigentlich den Rasen? Ihre Frau lebt in Graz, Sie verbringen jedes Wochenende dort.

Pilnacek: Ich lebe in Graz und arbeite in Wien. Und nein, ich bin kein Gartenarbeiter.

STANDARD: Sie interessiert die Schnittstelle von Politik und Justiz. Haben Sie eine rechtspolitische Vision?

Pilnacek: Mit schwebt eine unbefangenere Diskussion über das Strafrecht vor. Mich stört dieses Geschichtenmachen drumherum.

STANDARD: Ein lockerer Diskurs?

Pilnacek: Nicht locker, denn Strafrecht ist die schärfste Waffe, die der Staat einsetzen kann. Damit sollen nur schwerwiegende Rechtsbrüche aus der Gesellschaft gebracht werden, das Böse.

STANDARD: Was ist denn das Böse?

Pilnacek: Ich denke gerade sehr darüber nach, weil ich einen Buchbeitrag über das Böse schreiben soll. Ich kann noch nicht mehr sagen als: Das Böse ist die Antithese zum Guten. Es ist sehr schwierig, das Böse zu bestimmen, obwohl man sich schon als Kleinkind oder in Beziehungen die Frage stellt: "Bist du mir böse?", oder bittet: "Sei mir nicht mehr böse." Diese Fragen kommen von der Suche nach Verzeihung, nach Ausgleich.

STANDARD: Und das Böse steckt in jedem von uns?

Pilnacek: Ja, das Böse ist in unseren Möglichkeiten vorhanden. Man muss schon selbst vieles vermeiden wollen, das bezweckt ja auch das Strafrecht.

STANDARD: Sie sagen, man solle das Strafrecht "weniger als Mittel der Politik einsetzen". Dabei wird vom Innenministerium aus gerade an der Verschärfung der Strafen gearbeitet. Jeder in der Justiz weiß, dass das nicht nötig ist.

Pilnacek: Erstens: Die Arbeitsgruppe Strafrecht leite ich. Zweitens steht schon im Regierungsprogramm, dass Gewalt- und Sexualdelikte strenger bestraft werden sollen, die Regierung hätte das auch sofort umsetzen können. Immerhin gibt es die Arbeitsgruppe und den Nachdenkprozess dazu.

Das schärfste Schwert Iustitias ist das Strafrecht, sagt Pilnacek, mit dem wolle der Staat nur das Böse bekämpfen.
Foto: Christian Fischer

STANDARD: Sind Sie neuerdings auch für höhere Strafen?

Pilnacek: Das will ich weder bejahen noch verneinen. Es gelingt der Justiz einfach nicht, bei der Urteilsverkündung klarzumachen, warum sie in einem Fall diese und in einem anderen Fall eine andere Strafhöhe ausgemessen hat. Darum überlegen wir, ob wir einen eigenen Verfahrensabschnitt schaffen, in dem die Schuldfeststellung erfolgt, und einen zweiten, in dem die strafbestimmenden Umstände erörtert werden. So etwas gibt es auch in den USA. Denn mit einem Strafrecht, das auf keine Akzeptanz in der Bevölkerung stößt, erzeugt man soziale Schwierigkeiten.

STANDARD: Noch zu Ihnen. Sie gelten als Vielarbeiter, Ihre Kollegen sagen, man sehe Sie nie essen ...

Pilnacek: Weil ich kein Mittagessengeher bin.

STANDARD: Dafür gehen Sie abends ins Schwarze Kameel?

Pilnacek: Manchmal. Ein nettes wienerisches Lokal, man trifft unterschiedlichste Leute dort, hört Gerüchte aller Art, auch politische, man bekommt einiges mit.

STANDARD: Ja, aber auch von Ihnen, wie Ihre Kritiker behaupten.

Pilnacek: Was nicht stimmt, weil ich nichts erzähle.

STANDARD: Das Lokal ist 400 Jahre alt, Beethoven war oft im Kameel. Sie gehen gern ins Konzert?

Pilnacek: Eher ins Theater.

STANDARD: Und Urlaub machen Sie in Krk und Bad Kleinkirchheim?

Pilnacek: Das wissen Sie auch.

STANDARD: Ich hab gehofft, Sie sagen, das sei privat, gehe die Öffentlichkeit nichts an. Damit hätte ich den Übergang zum Überwachungsstaat gehabt, zum Sicherheitspaket der Regierung, das Sie verteidigen.

Pilnacek: Es gibt keine flächendeckende Überwachung, und ich spreche nur für den Reformteil in der Strafprozessordnung. Ich halte es für richtig, dass man künftig nicht nur Kommunikation über herkömmliche Telefonieanbieter überwachen kann, sondern auch Überwachungssoftware einsetzen darf, um verschlüsselte Nachrichten auf Whatsapp lesen zu können. Wenn es der Aufklärung schwerster Tatbestände dient. All das ist nicht der Untergang eines liberalen Staates.

Pilnacek, hier mit Strafgesetzbuch und Franz Kafkas "Der Prozess" in Reclam, ortet illiberale Züge in der Gesellschaft.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Die Österreicher sind aber nicht liberal. Oder sehen Sie das anders?

Pilnacek: Für die Gesellschaft und ihren Zugang zu Unrecht und Strafrecht stimmt das, die punitiven Vorstellungen werden überbetont. Würde man da ein liberales, gelasseneres und nicht von den Gegenpolen betrachtetes Verständnis entwickeln, wären die gesellschaftlichen Spannungen geringer.

STANDARD: Dafür haben wir ja gerade die richtige Regierung ...

Pilnacek: Das Sicherheitspaket, das Sie kritisieren, war ein ganz prominentes Anliegen im Regierungsprogramm von Ex-Bundeskanzler Christian Kern und der damaligen SPÖ-ÖVP-Koalition.

STANDARD: Was würden eigentlich Sie tun, müssten Sie ins Gefängnis?

Pilnacek: Für mich ist das unvorstellbar, und es macht mir Angst. Ich würde hoffen, dass ich schnell Arbeit bekomme, um wenigstens ein paar Stunden nicht im Haftraum verbringen zu müssen.

STANDARD: Passt zur letzten Frage: Worum geht's im Leben?

Pilnacek: Um Zufriedenheit, beruflich wie privat. (Renate Graber, 5.5.2018)