Der Sitz der schwedischen Akademie in Stockholm.

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Das schwedische Nobelpreiskomitee hat sich – wohl zur Überprüfung seiner eigenen moralischen Normen – eine Nachdenkpause verordnet. 2018 wird es zu keiner Literaturnobelpreisvergabe kommen. Ein unerhörter Akt, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es zuletzt in den Jahren 1940 bis 1943 der Katastrophe eines Weltkrieges bedurfte, um die Nobelpreisstiftung von der Vergabe ihres Lorbeers abzuhalten.

Es erscheint glaubwürdig, dass es zur Trockenlegung des Stockholmer Sumpfes mehr braucht, als die zuletzt gelichteten Reihen der Schwedischen Akademie frisch aufzufüllen. Die Paragrafen, deren Befolgung sich das Gremium auferlegt, müssen die Öffentlichkeit nicht bis ins Detail interessieren. Aber die allzu menschliche Komponente, die zum Beispiel das unerwünschte Betasten von weiblichen Gesäßen kennzeichnet, ramponiert gründlich die ethischen Werte, um deren Hochhaltung sich die Stockholmer Literaturfunktionäre bemühen.

Die Geltung des Literaturnobelpreises beruht auf dem moralischen Gewicht seiner jeweiligen Begründungen. Anders wird man die Kür von Swetlana Alexijewitsch (2015) oder, provokant gesprochen, Heinrich Böll (1973) schwer rechtfertigen können. So wohlfeil die Bitte um Reformen klingen mag: Das Moratorium mag die Akademie dazu motivieren, die Missbrauchsvorwürfe zu prüfen und die Vergabepraxis bei Fördergeldern zu überdenken. Möglicherweise aber steht auch mehr auf dem Spiel. Geprüft wird die Sinnhaftigkeit einer Auszeichnung, deren Geltungsanspruch obsolet zu werden droht.

Die Frage, ob – bei vollzähliger Besetzung – ein paar wenige Akademiemitglieder tatsächlich dazu berufen sind, jedes Jahr über literarische Superlative zu befinden, harrt der Revision. Der globale Zusammenschluss der Welt legt die Ausbildung neuer Bewertungskriterien für Literatur und deren Schöpferinnen und Schöpfer nahe. Das wachsende Bewusstsein von und für Diversität muss sich auch in der Galerie der mit Lorbeer Bekränzten mit größerer Deutlichkeit niederschlagen.

Gottlob vergessen und vorbei sind jedenfalls die Zeiten, als das kleine Stockholm mit hehrem moralischem Anspruch hinein in die große Weltpolitik drängte.

Man muss heute keinen Boris Pasternak mehr auszeichnen, bloß um sowjetischen Literaturbehörden deren Borniertheit fühlbar werden zu lassen. Sobald das Prinzip der Auslese literarisch wirksam wird, kommen zweifelhafte, um nicht zu sagen: unlautere Kriterien ins Spiel.

Überall dort, wo Literatur und Poesie die sprachliche Neuschöpfung der Welt in Szene setzen, dominiert Fülle; Einschränkungen sind der Tod einer Betrachtungsweise, die den Anspruch stellt, rundum zu blicken und aufs Ganze zu gehen. Man darf die Schärfe des eurozentristischen Blickes getrost in Zweifel ziehen – und auf Reformen hoffen im Zeichen von Erweiterung. Mehr Sensibilität für authentische Verlautbarungen aus den Gegenden jenseits unserer Wohlstandszonen: Sie fehlt nicht nur im Stockholmer Elfenbeinturm.

Mit ihr verschwände auch das ironische Aufmerken, das die Aufnahme so vieler LiteraturnobelpreisEntscheidungen in den vergangenen Jahren wie ein feines Lächeln begleitet hat. Und in der Zwischenzeit hätten die Herrschaften auch über die sittlichen Mindestansprüche ihres öffentlichen Wirkens nachgedacht. (Ronald Pohl, 4.5.2018)