Etgar Keret: "Wenn wir ein gutes Buch finden, machen wir einen Staat daraus."

Foto: Jonathan Goor

STANDARD: Israel wird 70 Jahre alt. Wie fühlt es sich an, als Etgar Keret in Israel zu leben?

Keret: Geburtstage waren mir noch nie wirklich wichtig und der Unabhängigkeitstag auch nicht. Wenn du an Unabhängigkeit denkst, denkst du an Befreiung, an Freiheit. Der Brauch an diesem Tag aber ist, sich mit einem Plastikhammer gegenseitig auf den Kopf zu schlagen und anderen Schaum ins Gesicht zu sprühen. Außerdem wird gegrillt, ich bin aber Vegetarier. Es scheint, als würde dieser Tag mit einem Akt der Aggression gefeiert. Ich sehe darin keine große Verbindung zum jüdischen Geist, unseren Wurzeln, unserer Geschichte.

STANDARD: Ist diese Art des Feierns nicht typisch israelisch?

Keret: Diese Bräuche demonstrieren Stärke. Ich denke, das ist die größte Lehre, die wir als posttraumatische Gesellschaft aus dem Holocaust gezogen haben: dass wir stark sein müssen, damit wir nicht von der Gnade anderer abhängen. Dahinter steckt Angst. Doch die anderen Lehren – andere nicht zu Opfern zu machen, sie nicht zu entmenschlichen, sich mit Fremdenfeindlichkeit in der eigenen Gesellschaft auseinanderzusetzen – sind für mich als Sohn von zwei Holocaustüberlebenden genauso wichtig, wenn nicht noch wichtiger.

STANDARD: Bis vor kurzem hatte die Regierung den Plan, afrikanische Flüchtlinge in Drittstaaten auszuweisen. Sie waren einer der Autoren, die einen offenen Brief dagegen unterzeichnet haben.

Keret: Dahinter steckt ein Konflikt zwischen Nationalisten, Fundamentalisten, Menschen, die glauben, dass man als Nichtjude weniger Mensch ist, und jenen, die an die Menschlichkeit glauben.

STANDARD: Israel definiert sich als jüdischer Staat. Man setzt sich aber schon lange mit der Frage auseinander, wie liberal oder wie jüdisch der Staat sein soll.

Keret: Die Idee des jüdischen Staates ist kompliziert. Meine Eltern, die den Holocaust erlebt und ihre Familie verloren haben, wollten einen sicheren Hafen für Juden. Das klingt legitim. Wenn ich aber mit dem arabisch-israelischen Autor Sayed Kashua spreche, sagt er: Wieso kann jemand, der an einem anderen Ort auf der Welt beschnitten wurde, hierherkommen und wird sofort Staatsbürger, während ein Palästinenser, der 1948 gegangen ist, nicht zurückkommen kann? Auch diese Sicht leuchtet ein. Israel ist ein einzigartiger Staat. Wenn du in den USA ein gutes Buch findest, wird ein Film daraus gemacht. Wenn wir ein gutes Buch finden, machen wir einen Staat daraus. Dieses Land basiert auf einem mittelmäßigen Buch von Theodor Herzl, Altneuland. Eine Art Science-Fiction-Buch. Wir sind das einzige Land, das auf einem Buch basiert. Und wir sind das einzige Land, das eine Sprache spricht, die einst wie im Tiefkühlfach eingefroren und zu irgendeinem Zeitpunkt in der Geschichte wieder aufgetaut wurde.

STANDARD: Eine Sprache, in der Sie, 70 Jahre nach der Staatsgründung, schreiben. Wobei viele Ihrer Geschichten nicht unbedingt typisch israelisch scheinen.

Keret: Im Hintergrund aber ist etwas über die Gesellschaft zu erfahren. Zum Beispiel geht es in einer Geschichte um einen Mann, der sich mit seiner Freundin streitet. Sie geht in ihre Wohnung, verschließt die Tür und sagt: "Hau ab! Ich will dich nicht sehen." Der Typ denkt sich: Ich könnte die Türe jetzt aufschlagen, wie sie es mir in der Armee beigebracht haben. Oder ich kann nach Hause gehen. Am Ende geht er nach Hause, weil er sie zu sehr liebt. Ich denke, das ist typisch israelisch. Ein Österreicher würde in so einer Situation wohl nicht wissen, wie man die Tür aufbricht. Eines der Dinge, die fundamental israelisch sind, ist diese gespaltene Persönlichkeit: Manche Menschen hier können sehr zivilisiert sein, sanft, intellektuell, vegan. Gleichzeitig verbringen sie drei Jahre in der Armee, 20 Jahre als Reservisten in einer anderen, aggressiven Wirklichkeit. Das kann man in meinen Geschichten spüren.

STANDARD: Sie schreiben auch Meinungsbeiträge für Zeitungen, die kritisch gegenüber Regierung und Politik sind.

Keret: Ehrlich gesagt mag ich das überhaupt nicht. Ich bin kein politischer Mensch. Ich mag Politik nicht, ich mag auch nicht darüber sprechen oder schreiben.

STANDARD: Warum tun Sie es?

Keret: Wenn ich eine Geschichte schreibe, ist es, als schwebte ich in der Luft, als hätte ich den besten Sex, den sich ein Mensch nur vorstellen kann. Aber wenn ich Meinungsbeiträge schreibe, fühlt sich das an, als würde ich den Abwasch machen. Warum wasche ich das Geschirr? Weil der Gestank sonst unerträglich wird.

STANDARD: Was sind die Reaktionen darauf? Ihr Schwiegervater, der Autor und Liederschreiber Yehonatan Geffen, wurde aufgrund eines kritischen Kommentars neulich von Verteidigungsminister Liebermann angegriffen, man solle Geffen im Radio boykottieren.

Keret: Was mich schon immer fasziniert hat, ist die Meinungsfreiheit in Israel. Intellektuelle, die Meinungsbeiträge verfassen, im Fernsehen offen kritisieren, das ist beispiellos. Es gehört beinahe zur DNA des Landes. Doch seit dem vergangenen Gaza-Krieg hat sich etwas verändert. Früher haben Linke und Rechte über die Zweistaatenlösung gestritten. Heute geht es um Meinungsfreiheit, um die Rechte der Araber, darum, wie wichtig der Oberste Gerichtshof ist. Es ist, als ob der Kampf sich heute mehr um die Natur der israelischen Gesellschaft dreht als um politische Wege.

STANDARD: Wurden Sie selbst schon angegriffen?

Keret: Ich wurde auf Facebook bedroht und während des letzten Gaza-Krieges war ich auf einer Todesliste von Verrätern, die im Netz kursierte. Für meine Frau haben sie eine Website gebaut, "Ich hasse Shira Geffen", und dort diskutiert, wie man sie am besten töten sollte.

STANDARD: Haben Sie je darüber nachgedacht, Israel zu verlassen?

Keret: Ich habe durch meine Eltern früh verstanden, dass es sehr viel wert ist, an einem Ort geboren zu werden, an dem du deine Muttersprache sprichst und wo niemand dir sagen kann: "Geh dorthin, wo du hergekommen bist." Ich weiß es zu schätzen, umgeben von Menschen aufgewachsen zu sein, die ich liebe, mit der schönsten Sprache der Welt, nur einen kurzen Fußweg vom Strand entfernt. Ich bin mir sicher, dass ich mich an einem anderen Ort der Erde wie im Exil fühlen würde. Ich habe erlebt, wie meine Eltern im Schlaf polnisch gesprochen haben. Ich will nicht in einem Land leben, in dem ich in einer anderen Sprache träume, erst recht nicht als Autor. Ich glaube, dass es einen Kampf und Identität in diesem Land gibt. Im Moment befinde ich mich auf der Verliererseite. Aber das ist eine langfristige Sache. Es kann sich zum Besseren verändern. (Lissy Kaufmann, 5.5.2018)