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Samuel Joseph oder auch Shai Agnon: Er bekam 1966 den Literatur-Nobelpreis.

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Was für ein bedeutungsvoller Name: Shai Agnon. Nicht nur, weil Agnon einer der wichtigsten Schriftsteller der modernen hebräischsprachigen Literatur und Israels erster und bislang einziger Literaturnobelpreisträger war, der den Preis 1966 zusammen mit Nelly Sachs erhielt. Nein – wer verstehen will, wer dieser Mann war, muss der Bedeutung seines Namens auf die Spur gehen. Der hat viel mit Sehnsucht zu tun.

Shai Agnon, 1888 in Galizien geboren, hieß eigentlich Samuel Josef Czaczkes. Den Namen Agnon gab er sich selbst in Anlehnung an sein erstes Werk Agunot, in der jüdischen Gesetzeslehre eine Bezeichnung für Ehefrauen, die sich scheiden lassen wollen, aber nicht können, weil der Mann abgehauen ist oder ihnen einfach keine Zustimmung geben will. Frauen also, die festgehalten werden, die sich aber nach etwas anderem sehnen – vielleicht noch einmal heiraten wollen.

Migrantische Sehnsucht

"Dieser Zustand hat Agnon fasziniert", erklärt die Literaturwissenschafterin Orit Meital. "Er hat ihn zu einem Zustand des modernen Menschen gemacht, Menschen, die sich stark nach etwas sehnen, aber nicht können, nicht dürfen. Die in einer Situation feststecken, deren Herz und Verstand aber längst woanders sind. Viele seiner Geschichten handeln von unglücklicher Liebe." So geht es in Agunot, 1908 erschienen, um eine unglückliche Ehe, in denen die beiden Frischvermählten eigentlich jemand anderen lieben. Ezekiel, der männliche Protagonist, ist aus Polen nach Jerusalem eingewandert, doch sein Herz hängt an einer Frau in der Heimat, zu der er am Ende auch zurückkehrt. Die Ehe scheitert.

Eine Art Sehnsucht verspürte wohl Shai Agnon selbst. Nicht in der Liebe, zumindest ist darüber nichts bekannt. Er war verheiratet mit Esther, die beiden hatten zwei Kinder, Emuna und Chemdat. Agnons Sehnsucht war die eines Migranten, der stets ein Stück der alten Heimat im Herzen trägt. 1908 kommt Agnon mit der zweiten Alija in Jaffa an. Alija wird die jüdische Einwanderung nach Israel, damals noch Palästina, genannt. Es ist die zweite große Einwanderungswelle, mit der vor allem Juden aus dem Russischen Reich ins Heilige Land schwappen. Im Jahr 1945 wird Agnon diese Erfahrung in seinem Werk Tmol Shilshom (übersetzt: Gestern, Vorgestern) verarbeiten, in der sich ein junger Einwanderer Israel als Garten Eden vorstellt – aber von der Realität nach der Ankunft überrascht wird.

Shai Agnon selbst lebt nach seiner Ankunft in Palästina zunächst in Neve Tzedek, zieht dann aber nach Jerusalem. Später wird er in seiner Rede für den Nobelpreis sagen, dass er aufgrund der historischen Katastrophe, da Titus von Rom Jerusalem zerstörte, in einer Stadt im Exil geboren wurde. "Ich habe mich aber immer als einen betrachtet, der in Jerusalem geboren wurde." Doch schon vier Jahre nach seiner Einwanderung zieht Agnon nach Deutschland, wo er auf Schriftsteller und Intellektuelle trifft, darunter Martin Buber. Außerdem lernt er den Geschäftsmann Salman Schocken kennen, der ihn von da an auch finanziell fördert – und später die Tageszeitung Haaretz kauft, die noch heute mehrheitlich im Besitz der Schocken-Familie ist.

Erst zwölf Jahre später kehrt Agnon nach Jerusalem zurück, baute ein Haus im Stadtteil Talpiyot, wo er von 1931 bis zu seinem Tod 1970 wohnen wird. Das Haus ist heute ein kleines Museum, beim Besuch erfährt man, warum es wie eine Festung wirkt, ein viereckiger Klotz mit wenigen, kleinen Fenstern mit Gitterstäben: Schon ab 1929 gab es hier zahlreiche arabische Aufstände, bei denen Häuser zerstört wurden.

"Ob er sich hier jemals zu Hause gefühlt hat, ist schwer zu sagen", sagt die Literaturwissenschafterin Meital, die auch Direktorin des Museums ist. "Als Agnon in Israel war, hat er oft über seine Heimat geschrieben. Und in Deutschland viel über Israel. Ein Teil der Definition von Aguna bedeutet ja, sich an einen anderen Ort zu wünschen. Das ist typisch für die Literatur von Auswanderern und auch für Agnons Werke." So schrieb Agnon nach seiner Rückkehr nach Jerusalem Oreach Nata Lalun (auf Englisch als Guest for the Night erschienen), in dem er den Zerfall seiner Heimat Galizien und des dortigen europäischen Judentums nach dem Ersten Weltkrieg beschreibt – beinahe apokalyptisch, als hätte er geahnt, was folgen wird.

"Schabbat" über dem Radio

Was Agnon als Schriftsteller so besonders macht, ist, dass er die meiste Zeit seines Lebens religiös war. Er wuchs in einer religiösen Familie auf, lernte als Kind die heiligen Schriften und auch das alte Hebräisch der Bibel. Mit seinem Vater studierte er die Lehren des Maimonides. Er ging in die Synagoge, betete regelmäßig und hängte ein kleines, gebasteltes Schild mit der Aufschrift "Schabbat" über das Radio im Wohnzimmer seines Hauses in Talpiyot. Das Schild ist heute noch zu sehen – es sollte seine weniger religiöse Frau und die Kinder daran erinnern, am Schabbat, dem jüdischen Ruhetag, das Radio nicht einzuschalten.

"Wäre er nicht Schriftsteller geworden, dann wohl Rabbiner", erklärt Orit Meital. "Er hat sich sehr den alten Schriften gewidmet, den Meistern der hebräischen Literatur. Diese hat er in sein eigenes Schreiben ganz natürlich einfließen lassen." Die besondere Sprache ist es, die Samuel Joseph Agnon für Leser so anziehend macht – nicht alleine die Tatsache, dass viele seiner Protagonisten religiös sind.

Vieles ist kafkaesk

"Die meisten seiner Leser sind religiös", erklärt Meital. Nicht ultraorthodox: Für die Strenggläubigen sind weltliche Schriften tabu, auch die von Agnon. Für Orthodoxe aber und für Nationalreligiöse ist Shai Agnon noch heute ein beliebter Schriftsteller, der eine Brücke schlägt zwischen weltlichen und religiösen Themen. "Er hat nicht einfach nur einen bestimmten, alten Dialekt übernommen, sondern ganz verschiedene Sprachebenen aus den Gebeten, dem Talmud, der Bibel, aus religiösen Schriften aus verschiedenen Zeiten zusammengebracht und damit seine eigene Sprache kreiert, das Agnonit", erklärt die Agnon-Expertin Meital. Genau das macht ihn aber für Menschen, die nicht Hebräisch sprechen, nahezu unzugänglich, weil so viel von dem, was seine Werke ausmacht, in den Übersetzungen verloren geht.

Agnon war ein Mensch, der nicht nur in der Welt des Judentums, sondern auch in der Welt der Literatur zuhause war. Schon seine Mutter brachte ihm als Kind die deutsche Literatur näher. Er hätte es selbst niemals zugegeben, aber seine Werke wurden auch von modernen Autoren beeinflusst. "Vieles ist kafkaesk, hat etwas Psychoanalytisches, Freudsches", erklärt Meital. Dass er Kafka gelesen hat, verneinte Agnon zeit seines Lebens. Und als er einmal auf ein Werk Kafkas in seiner Bibliothek angesprochen wurde, verwies er auf seine Frau Esther.

In seinem Haus in Talpiyot ist sein Arbeitszimmer im ersten Stock noch heute zu besichtigen: ein Raum, bis unter die Decke mit Büchern vollgepackt, vor allem mit religiösen Schriften. Seinen Kindern war der Zutritt zu seinem Arbeitsbereich verboten. Agnon schrieb stets im Stehen an einem Schreibpult mit Tinte auf Papier. Er war bekannt für seine unleserliche Schrift. Seine Frau aber konnte sie entziffern – und musste sie abtippen.

Im Jahr 1970, vier Jahre nachdem er den Literaturnobelpreis erhalten hat, stirbt Shai Agnon und wird auf dem Ölberg in Jerusalem begraben. Seine Werke werden aufgrund der besonderen, schwierigen Sprache immer noch selten gelesen, gehören aber zur Pflichtlektüre an israelischen Schulen. (Lissy Kaufmann, 5.5.2018)