Syrien zeigt, wie schwach Europa ist.

Cartoon: Michael Murschetz

Mehr als zehn Jahre seit der Finanzkrise von 2008 befindet sich die EU in einer langen Stagnationsphase, in der sie kaum Fortschritte gemacht hat. Gerade in der Gegenwart, in der sich dramatische weltpolitische Veränderungen und ebenso herausfordernde Krisen in der europäischen Nachbarschaft oder gar im Inneren der Union ereignen, wie der Aufstieg eines neuen Nationalismus und damit einhergehend der direkte Angriff auf die Grundwerte von Rechtsstaat und Demokratie, ist eine Stärkung der Europäischen Union im Interesse aller Mitgliedstaaten und unverzichtbar, wenn das europäische Einigungsprojekt nicht scheitern soll.

Doch nichts passiert, und das liegt im Wesentlichen an Deutschland. Jahrelang dominierten nach 2008 Wachstumsschwäche und Wirtschaftskrise die Union. Zudem hatte es in Berlin immer geheißen, Deutschland müsse auf Frankreich warten, allein könne Deutschland die EU nicht voranbringen (was zutreffend war).

Dann wurde Emmanuel Macron mit einer explizit proeuropäischen und auf die Modernisierung der französischen Volkswirtschaft setzenden Agenda zum französischen Präsidenten gewählt. Frankreich war zurück, aber nunmehr war Deutschland nicht handlungsfähig, weil im Wahlkampf und danach von einer schwierigen Regierungsbildung absorbiert.

Beeindruckende Rede

Macron hatte in der Zwischenzeit in seiner beeindruckenden Rede zur Erneuerung der EU an der Pariser Sorbonne weitreichende Reformvorschläge gemacht und dabei den Schwerpunkt auf die Stabilisierung der Eurozone gelegt, auf den Ausbau eines gemeinsamen Schutzes der Außengrenzen und den Aufbau einer gemeinsamen europäischen Verteidigungsinitiative. In Deutschland stießen diese Vorschläge bei den Christdemokraten und Liberalen auf eine eisige Reaktion, ja auf Ablehnung, ohne dass Berlin aber eigene Vorschläge präsentiert oder auch nur eine eigene Debatte begonnen hätte.

Deutschland schwieg zur Zukunft Europas und fürchtete vor allem um sein Geld. Krämergeist statt europäische Vision dominierte (und dominiert) Berlin. Die Erbsenzähler des Haushaltsausschusses des Bundestages scheinen die Europapolitik übernommen zu haben, die früher in den Händen von Bundeskanzlern lag, die um die historische Bedeutung der voranschreitenden europäischen Einigung für Deutschland wussten.

Doch Angela Merkel schweigt und lässt sich von den Hinterbänklern der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion Fesseln für die kommenden europäischen Verhandlungen anlegen.

Dabei ist klar, dass es die Chance namens Emmanuel Macron kein zweites Mal geben wird. Und diese ungenutzt verstreichen zu lassen würde von unglaublicher politischer Torheit und historischer Blindheit zeugen, zumal wenn man die gegenwärtigen weltpolitischen Veränderungen sieht.

Die beiden Gründungs- und Garantiemächte des transatlantischen Westens sind in unseren Tagen dabei, sich von diesem zu verabschieden. Großbritannien hat sich für den Austritt aus der EU entschieden, der nächstes Frühjahr stattfinden wird. Und die USA unter Trump haben nicht nur ihre transatlantische Sicherheitsgarantie relativiert, sondern zugleich das System des freien Welthandels praktisch infrage gestellt, von dem Europa seit den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts abhängt (und Deutschland ganz besonders!). Mit dem drohenden Ende des Westens werden aber die bisher stabilen Fundamente Europas erschüttert – wirtschaftlich und sicherheitspolitisch. Das heutige Europa war auf das Engste mit der westlichen Nachkriegsordnung verflochten, die vor unseren Augen dahingeht. Parallel dazu vollzieht sich der Aufstieg der Weltmacht China, verbunden mit der Verschiebung des Zentrums der Weltwirtschaft weg vom Atlantik in den Pazifik nach Ostasien. Die Europäer drohen zudem in der Digitalisierung und bei der künstlichen Intelligenz, der Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts, von den USA und China abgehängt zu werden.

Grenzen der Macht

In Osteuropa testet das Russland Putins erneut die Grenzen mit militärischer Macht, die Türkei unter Erdogan driftet vom Westen und der Nato und Demokratie und Rechtsstaat weg. Dem gesamten Nahen Osten droht eine langanhaltende Krise mit Kriegen und großen Migrationsbewegungen.

Europa wird davon wohl direkt wegen seiner regionalen Nachbarschaft betroffen werden. Wie schwach dieses Europa tatsächlich ist, zeigt eben der Krieg in Syrien, in dem die EU politisch (von einer militärisch auch nur abschreckenden Rolle ganz zu schweigen) so gut wie irrelevant ist, solange es nicht um die Finanzierung des Wiederaufbaus geht.

In Berlin meint man, Russland alles geben zu müssen, da nur Russland den syrischen Krieg beenden könne. Dabei übersehen die Vertreter der Position von "Es gibt keine militärische Lösung!", dass genau diese für Putin, Assad und den Iran in greifbare Nähe gerückt ist. Und dass zweitens Russland, selbst wenn es wollte, den Krieg nicht einfach beenden kann, denn der Iran wird seinen schiitischen Landkorridor bis zum Mittelmeer nicht einfach aufgeben.

Israel andererseits kann und wird iranische Revolutionsgarden und Raketen an seiner Nordgrenze in Syrien nicht akzeptieren, sodass dort und im Libanon als Nächstes ein Krieg zwischen Israel und dem Iran droht. Europa wird dabei ganz anders gefordert sein als bisher, denn einerseits gebietet es sein strategisches Interesse, unter allen Umständen einen nuklearen Rüstungswettlauf in der Region zu vermeiden und deshalb an dem Nuklearabkommen mit dem Iran festzuhalten, andererseits kann es, wenn es um Israel geht, nicht neutral bleiben und die iranischen Hegemoniebestrebungen in der Region einfach übersehen und akzeptieren.

Unvorbereitete EU

Sind die EU und ihre Mitgliedstaaten auf diese Risiken vorbereitet und könnten sie, falls erforderlich, damit umgehen? Die Antwort lautet, jenseits von Frankreich und noch Großbritannien, klar: Nein! Das gilt ganz besonders für die dritte große europäische Nation und die stärkste Wirtschaftsmacht der Union, für Deutschland. Dessen Militär wurde kaputtgespart, und das Land leistet sich intellektuell eine langanhaltende Auszeit von den strategischen Bedrohungen der eigenen und europäisch-westlichen Sicherheit. Die Arbeitsteilung mit der Schutzmacht USA war halt allzu bequem. Aber die wurde von Trump aufgekündigt. Und nun?

Was Deutschland in Finanzfragen allzu gerne anderen Nationen in der Eurozone vorwirft, nämlich sich nicht an die Regeln und die vereinbarte Sparpolitik zu halten, fällt in der Sicherheitspolitik auf es selbst zurück. Aber die Zeit des militärischen und sicherheitspolitischen Trittbrettfahrens geht zu Ende. Und was bleibt Deutschland dann außer einem starken Europa, das es gewiss nicht umsonst gibt?

Auf-Sicht-Fahren

Niemand erwartet eine Eins-zu-eins-Übernahme der französischen Vorschläge, aber man wüsste schon gerne, wie die eigene Vision der Bundesregierung und ihre Vorschläge für ein starkes Europa aussehen, und was Deutschland bereit ist, dafür zu tun und zu investieren. In diesen Zeiten, wo sich die Fundamente der globalen Ordnung zu unseren Lasten verschieben, reicht ein "Auf-Sicht-Fahren" bei weitem nicht mehr. Die Geschichte erzwingt anderes. Die Messlatte liegt auf der Höhe Kohl und Mitterrand oder noch höher, bei Adenauer und de Gaulle. Schweigen und Abwarten wird dem nicht gerecht. (Joschka Fischer, 4.5.2018)