Blogger William Lee Adams.

Foto: Marco Schreuder

"Marco, ich habe nur kurz Zeit, wir müssen ja zu jeder Pressekonferenz und mit jedem Künstler ein Interview machen, sonst haben wir wieder hunderte Vorwürfe in den Kommentaren, dass wir ein Land absichtlich schlechtschreiben würden." Man merkt, dass William Lee Adams, unüberhörbar ein Südstaatler, nicht nur Spaß beim Eurovision Song Contest hat, sondern viel Stress. Trotzdem konnten wir uns zu einem Gespräch treffen, denn wie aus einem kleinen Blog die größte Webseite der Eurovision-Community wurde, ist mehr als bemerkenswert. Die Ausdrücke "Let's do it" und "You slay" sind zu Markenzeichen der Website und einem globalen Phänomen geworden.

Foto: Screenshot Wiwibloggs

Schreuder: Wie kam es 2009 zu deinem Blog?

Adams: Ich war ein Song-Contest-Neuling. Ich wollte einfach herausfinden, was dieses Eurovision-Ding eigentlich ist, weil alle um mich herum sich überhaupt nicht dafür interessierten. Ich stellte diese Frage dann einfach auf einen Blog. Am ersten Tag hatte ich 15 Leser, am übernächsten schon 150. Am Ende der Woche waren es 125.000. Ich war selbst überrascht, wie dieses Phänomen Eurovision funktioniert. Seitdem wachsen wir jedes Jahr, und es hat mein Leben verschluckt.

Schreuder: Ist der Blog ein Full-Time-Job?

Adams: Ich war fünf Jahre Europa-Korrespondent für das amerikanische "Time"-Magazine im Londoner Büro. 2012 hörte ich damit auf und wurde freiberuflicher Journalist, so hatte ich mehr Zeit für Wiwibloggs. Zuerst dachte ich ja, es bliebe ein Hobby, aber wenn man freiberuflich arbeitet, verliert man die Kontrolle, und man investiert immer mehr Zeit, viel zu viel Zeit. Mein Mann wurde schon zu Recht böse auf mich. Jetzt bin ich freiberuflich bei der BBC und mache Radio, möchte das aber bald zu einem Full-Time-Job machen. Was das für Wiwibloggs bedeutet, weiß ich noch nicht. Ich werde mein Leben wohl weiter jonglieren müssen.

Schreuder: Wie erklärst Du Dir den Erfolg von Wiwibloggs? Es gibt ja Unmengen von Song-Contest-Fanblogs, aber keiner ist so groß geworden wie Deine Seite.

Adams: Ich weiß es nicht. Vielleicht veröffentlichen manche Fanblogs einfach zu oft das Übliche und klingen wie Presseaussendungen. Ich wollte nie nur informieren. Ich habe auch meine Persönlichkeit reingesteckt und sichtbar gemacht. Ein gewöhnliche Person (ähnlich wie Max Mustermann im Deutschen, Anm.) wird im englischen Joe Bloggs genannt, ich wollte aber eine schwule Version davon machen und nannte das Ding Wiwibloggs. Ich wollte meine Identität und Persönlichkeit mit reinpacken. Mittlerweile haben wir ein riesiges Team mit Menschen aus Moldawien, Albanien, Rumänien und so weiter, und sie alle sprechen mittlerweile wie ein schwuler amerikanischer Südstaatler. Dass ich Journalist bin, macht sicher einen großen Unterschied zu andere Blogs, die diese Erfahrung und Ausbildung nicht haben.

Schreuder: Wann hat Dich der Song-Contest-Wahnsinn gepackt?

Adams: 2007 habe ich den ersten Song Contest gesehen, ihn aber eigentlich schnell auch wieder vergessen, nur Verka Serduchka, die ukrainische Drag-Queen, blieb in meinem Gedächtnis. 2008 war ich dann in Budapest und bekam in einem Restaurant mit, dass an diesem Abend Song Contest ist und ging heim ins Hotel und schaute ihn mir an. 2009 entschied ich dann zwei Wochen vor dem Event, mal selbst hinzufahren. Dann sah ich die rumänische Sängerin, die "Balkan Girls" sang. Ihr Vater war mazedonischer Priester, aber sie trug einen so kurzen Rock, und ich dachte mir: Oh mein Gott, ich kann ihr nächstes Kind schon sehen. Da war ich so von diesem Ding fasziniert, dass ich darüber schrieb, und der Rest entwickelte sich wie ein Schneeball.

Die Rumänin Elena, die 2009 "The Balkan Girls" sang, ist schuld daran, dass es Wiwibloggs gibt.
Eurovision Song Contest

Schreuder: Ist Wiwibloggs immer noch ein schwuler Blog?

Adams: Mittlerweile liest jeder unsere Seite. Ich startete zu einer Zeit, als Social Media und Websites sich immer mehr verschränkten und die Persönlichkeit des Betreibers immer wichtiger wurde. Ich hatte einfach Glück mit dem Zeitpunkt. Menschen, die mich nicht kennen, kennen mich trotzdem. Ich verstelle mich ja nicht, dafür habe ich auch gar keine Zeit. Wenn ich ein Video drehe, kann ich nur so sein, wie ich bin. Daher kommen wir vermutlich authentischer, manchmal auch emotionaler rüber als Mainstreammedien. Neulich war ich in Armenien bei der Vorausscheidung, und dort waren 15-jährige Mädchen, die dann zu mir sagten: You slay, Queen! Sie fühlten sich als Teil einer weltoffenen Community – und das durch unsere Website. Sie sind teil einer queeren Community, ohne queer zu sein. Ich finde das fantastisch, so etwas berührt mich wirklich. Es geht der Song-Contest-Community ja um viel mehr als nur um den Song Contest. Es gibt ja sogar frühere österreichische Parlamentarier, die über den Song Contest bloggen.

Schreuder: Kann es sein, dass Du als Amerikaner auch einen frischeren Blick auf den Song Contest mitbrachtest, weil Du nicht damit aufgewachsen bist? Für mich sind die ersten Erinnerungen ja mit gemeinsamen Abenden mit Oma, Opa und Familie in den Siebzigern verknüpft …

Adams: Interessante Frage, darüber habe ich noch nie nachgedacht. Ich hatte ja wirklich absolut keine Verbindung dazu, ich kam eindeutig von außen. Ich wusste nicht, was San Marino ist und wo das liegt. Ich bin Amerikaner, und wir machen bekanntlich nicht mit. Vielleicht sehe ich andere Dinge, weil ich auch etwas Abstand habe. Zudem sehen sich Europäer ja immer als Bewohner eines kleinen Landes in etwas Größerem, das kennen die Amerikaner nicht. Wenn du in Kansas lebst, kennst du nichts anderes. Du fliegst nicht einfach mal für ein Paar Euro kurz nach Lettland und hörst eine andere Sprache.

Marco Schreuder im Gespräch mit William Lee Adams von Wiwibloggs.
Foto: Alkis Vlassakakis

Schreuder: 2015 hast Du einen Award gewonnen ...

Adams: Ja, den UK Blog of the Year Award. Ich war total überrascht darüber, denn der Song Contest ist ja doch nur eine Nische, vor allem in Großbritannien, wo er kontinuierlich schlechtgeredet wird.

Schreuder: Ein anderer Aspekt eines jeden erfolgreichen Blogs mit über 200.000 Besuchern sind die zahllosen Kommentare. Liest Du sie?

Adams: Es gibt manchmal leider schlimme Kommentare mit persönlichen Angriffen. Ich lese sie nicht mehr, dafür habe ich Moderatoren, die das machen. Als es um die russische Teilnehmerin im Rollstuhl ging, war es mir aber einmal zu viel und ich machte ein Video-Statement, da ich auch Menschen mit Behinderungen in meiner Familie habe. Das musste ich einfach tun. Zum Glück habe ich fast 70 Leute mittlerweile weltweit, die mir auf Wiwibloggs helfen und mitarbeiten, 15 davon sind im Kernteam mit klar aufgeteilten Aufgaben.

Schreuder: Verdienst Du Geld mit deinem Blog?

Adams: Ach, viele glauben, dass wir damit reich werden, aber leider stimmt das nicht. Wir sind ja auch nicht eine offizielle Seite, die zu den Fans spricht. Wir sind selbst die Fan-Community. Das ist ein wichtiger und wesentlicher Unterschied zu offiziellen Kanälen wie eurovision.tv, die nie so persönlich sein können und immer sachlich bleiben müssen.

Schreuder: Welcher Song Contest war Dein liebster?

Adams: Düsseldorf 2011. Da stimmte alles. Vielleicht auch, weil mein Blog noch kleiner war und es vor Ort nicht so viel Arbeit war wie danach.

Schreuder: Dein Lieblingsbeitrag aller Zeiten?

Adams: Ukraine 2007, Verka Serduchka mit "Dancing Lasha Tumbai". Das entspricht dem Geist von Eurovision. Wir Amerikaner hatten einfach ein anderes Sowjetbild von einem Ukrainer, und bestimmt nicht das einer bunten Dragqueen. Der Song Contest versteht es wunderbar, Stereotype zu bedienen und zu hinterfragen.

Verka Serduchka aus der Ukraine mit "Dancing Lasha Tumbai".
Eurovision Song Contest

Schreuder: Welcher Beitrag gefällt Dir dieses Jahr am besten?

Adams: Moldawien. Die hatten ein Budget von 5.000 Euro und machten etwas Großartiges daraus. Sie zeigen, dass man mit Kreativität und Herz mehr machen kann als etwa Schweden. Die machen eine sehr teure Lichtshow, aber man fühlt nichts dabei. Aber ich bin immer gerne für die Underdogs. Euer Cesár ist aber auch sehr gut. Ich machte mir im Vorfeld Sorgen, dass er zu verschlossen sein könnte, aber der öffnet sich hier richtig, das ist so schön zu sehen.

Der moldawische Beitrag bei den Proben 2018 – mit 5.000 Euro Budget.
Eurovision Song Contest

(Marco Schreuder, 6.5.2018)