Es kommt manchmal vor, dass man nachts eine innere Unruhe verspürt. Der Tag war lang und hart, das Essen schwer – der Beruf und das Leben vor der Haustür sowieso. Dann träumt man davon, wieder Matura zu haben. Danke für nichts! Auf Platz eins bleibt in diesem irgendwie unguten Setting des leider nicht steuerbaren Unterbewusstseins wohl für immer die mündliche Prüfung in Mathematik mit einer Gleichung mit zwei Unbekannten. Aktenzeichen XY ungelöst. Fragen Sie nicht.
Platz zwei geht allerdings immer an die schriftliche Deutschmatura. Leute, die diesen Donnerstag erstmals in den Genuss einer Zentralmatura gekommen sind und aus drei Themenpaketen auswählen konnten, können sich das gar nicht mehr vorstellen, weil die Aufgabenstellung im Vergleich zum Heute geradezu läppisch war, aber: In den 1980er-Jahren bedeutete das, aus drei Vorschlägen ein Zitat einer Persönlichkeit des Geisteslebens auszuwählen und dieses auf drei A4-Seiten möglichst klug zu interpretieren.
Diese Woche mussten die "sehr geehrten Kandidaten" im Rahmen der ersten schriftlichen Zentralmatura in Deutsch gleich zwei Texte schreiben, die sie im Kombipack aus drei Aufgabenfeldern auswählen konnten: "1. Literatur – Kunst – Kultur. 2. Respekt. 3. Entscheidungen treffen." Sieht man sich die Sache genauer an, erfahren wir hier sehr viel vom heutigen Leben und wie dieses von Pädagogen gestaltet werden will. Ein Lehrer, so er nicht die Schwarze Pädagogik vertritt, will danach trachten, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Er sollte zumindest versuchen, sie so sauber zu hinterlassen, wie er sie vorgefunden hat. Im Zweifel immer doppelt spülen!
Herrje. Das war schon immer so. Nichts hat sich geändert. 1982 war allerdings der Tintentod verboten. Durchstreichen unerwünscht. Sie fragen, was ein Tintentod ist? Das ist der Vorgänger der Löschtaste oben rechts auf dem Keyboard. Kugelschreiber hat es schon gegeben. Sie waren aber für uns Schüler auf dem Land einer jener verbotenen Gegenstände, die man öfters im Fernsehen in amerikanischen Räuberpistolen sah. Das geschriebene Wort ist eine mächtige Waffe. Wir haben unsere Füllfedern noch mit Patronen geladen!
Zweieinhalb Seiten
Konkret bedeutete das: Den Sinnspruch von Mahatma Gandhi konnte man gleich vergessen. Es handelte sich um irgendeinen Satz mit Weltfrieden. Hippiehit. Daheim wummerte zu dieser Zeit "Ein kleines bisschen Krieg" von der Deutsch-Amerikanischen Freundschaft aus dem Ghettoblaster. Lebensweisheiten von Adalbert Stifter sollte man noch heute keinem jungen Menschen zumuten, der Urgroßvater hat keine Mappe hinterlassen. Blieb also nur André Heller mit irgendwas à la "Höflichkeit ist ein Luftkissen. Wenn man hineinsticht, platzt es."
Wenn man endlich aufwacht, weil einem der Traum zu dumm geworden ist, kann man heute darüber lachen. Zweieinhalb Seiten sind sich damals knapp ausgegangen. Dazwischen war man einmal in drei Stunden heimlich auf dem Klo rauchen (leider vorher im Spülkasten keine Lesehilfe für André Heller versteckt). Und Adjektive, mit denen man Aufsätze strecken kann, wurden immer schon überbewertet. Achtung, Sätze mit "und" zu beginnen, ist übrigens streng verboten!
Zurück in die Gegenwart: Neben einer Stilübung in Sachen Postings mit Niveau (2018 tatsächlich noch als "Leserbrief" bezeichnet) mussten die Schüler im Rahmen der "standardisierten kompetenzorientierten schriftlichen Reifeprüfung" geschlagene fünf Stunden lang wahlweise auch eine Interpretation eines historischen, aber brandaktuellen Textes über Weltwirtschaftskrise und Armutsfalle vorlegen. In "Der Meineid" begeht ein Obdachloser einen Diebstahl, um im Gefängnis ein Dach über dem Kopf zu bekommen. Das wird allerdings von einem Gutmenschen verhindert, was einige moralische Fragen aufwirft. Hui.
Modekonsum und Nudging
Der Themenblock "Häme" und "Respekt im Internet" wurde von den Schülern tendenziell nicht gewählt. Warum soll man sich die eigenen Hasspostings madig machen, bloß weil das den Lehrern taugt? Dem Trendbarometer nach entschieden sich die meisten jungen Leute für eine "Erörterung" zum lebensnahen "Modekonsum" und einer Erklärung des bisher weitgehend unbekannten Begriffs des "Nudging".
Das ist ein marketingmäßiges Anstupsen der Kundschaft, wenn diese sich vernunftmäßig auch ohne pädagogischen Zeigefinger selbstoptimieren soll. Lehrer lieben das natürlich. Wie das geht? Rauchende Babys auf Zigarettenpackungen abbilden. Fruchtteller statt Sachertorte auf Augenhöhe in der Kantine hinstellen.
Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir. Im Anforderungskatalog für die Lehrer steht 2018: "Argumentation, Deskription/Rekapitulation, Evaluation". 1984 hat dann auf der Uni übrigens ein anderes schönes Lebensmotto gegriffen: "Subversion durch Affirmation!" Wer schreiben lernt, lernt denken. Wer denken lernt, lernt lügen. Die Erde wird der schönste Platz im All. Danke, Zentralmatura. (Christian Schachinger, 5.5.2018)