Genialer Rechthaber: Karl Marx (1818-1883)


Foto: Imago / Steinach

Für jemanden, der von der Wirklichkeit des Kapitalismus ein eher ungefähres Bild besaß, war Karl Marx ungemein selbstgewiss. Seinen geistigen Werdegang verdankte der Anwaltssohn aus Trier dem deutschen Idealisten Hegel. Die Macht seiner Argumente erprobte er nicht von ungefähr im Wettstreit mit anderen, ähnlich querulantischen Hegel-Jüngern.

Wir schreiben die frühen 1840er-Jahre. Genüsslich räumte Marx geistige Widersacher wie den Religionskritiker Ludwig Feuerbach aus dem Weg. Mit Argumenten, wohlgemerkt. Letzterer, ein Bilderstürmer, ersetzte das religiöse "Wesen" durch das menschliche.

Feuerbach betrachtete den Menschen noch als Abstraktum. Marx hingegen wollte sich nicht länger den Sand der Begriffe in die Augen streuen lassen. "In seiner Wirklichkeit", dozierte der vormalige Journalist der Rheinischen Zeitung, "ist es" – das menschliche Wesen – "das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse." Anschauung sollte die gelehrte Spekulation ersetzen.

Unermüdlich analytisch

Fortan trieb Marx bis an sein Lebensende, 1883 in London, nichts anderes mehr als die gründliche Analyse besagter Verhältnisse. Unerbittlich hielt er dem Kapitalismus die Gesetze von dessen Funktionieren unter die Nase.

Marx tat dies unermüdlich. Aber eigentlich hatte ihn auch niemand um seine Meinung gefragt. Aus der "Selbstzerrissenheit" und dem "Sichselbstwidersprechen" der menschlichen Verhältnisse leitete er Bewegungsfunktionen ab. Hegel lieferte, dem Begriffe nach, dem Privatgelehrten den Ablaufplan. Marx machte aus dem Fortschreiten einer zu sich selbst kommenden Vernunft etwas unerhört Neues. Er bewunderte den Kapitalismus rückhaltlos dafür, ungeheure Kräfte an Produktivität freizusetzen.

Zugleich aber stellte er, indem er die Herausbildung des Industrieproletariats haarklein beschrieb, der bürgerlichen Ausbeuterklasse, der Bourgeoisie, den Totenschein aus. Höchstens über den Zeitpunkt des Kollapses ließ Marx mit sich handeln, nicht über die Tatsache an sich. Ökonomisches Elend stiftet, auf verzwickte Weise, Freiheit.

Und so versetzt einem aus heutiger Perspektive die Hybris von Marx einen sanften Schauer. Wie konnte jemand wie er, der als politischer Flüchtling von der Hand in den Mund lebte, seinen Standpunkt gleichwohl als Sitz der Weltvernunft ausgeben? Wenn sein Ausgehfrack nicht gerade beim Pfandleiher hing, setzte Marx, der "Londoner", sich in die Bibliothek des British Museum und exzerpierte nach Herzenslust die Klassiker der Ökonomie.

So gesehen war der spätere Gesetzgeber der Weltrevolution ein formidabler Futterverwerter. Ganz allmählich setzte er Begriffe wie "Wert", "Mehrprodukt", "Arbeitskraft" und "Profitrate" zu langen Aussageketten zusammen. Dass der Kapitalist die Arbeitskraft des Proletariers ausbeutet, indem er sie kauft, und den eigentlichen Produzenten dabei um den – von ihm eingestrichenen – Mehrwert prellt: Die Suggestivkraft solcher Formeln hat ihren Wahrheitsgehalt mehrfach übertroffen.

Nicht die schändliche, nackte, "unverstellte" Ausbeutung der Ärmsten der Armen gilt es mit Blick auf das 19. Jahrhundert zu bestreiten. Wo steckten bloß all die Proletarier, von denen Marx unausgesetzt sprach?

Auf das Vorkommen der "Arbeitermassen, in der Fabrik zusammengedrängt", konnte Marx als Empiriker schwerlich hinweisen. Die "Organisation der Proletarier zur Klasse" blieb Wunschdenken. Von seinem Freund Friedrich Engels ließ sich Marx nach Manchester entführen. Dort, im "Cottonopolis" der Wollspinnereien, mochte der Trierer in der Tat einen Eindruck von den "einfachsten, eintönigsten" Handgriffen gewinnen, die die ungelernten Arbeiter ausführten. Doch bildete Manchester eine bedeutende Ausnahme auf der industriellen Landkarte.

In Frankreich und Deutschland zum Beispiel blieb das Proletariat jahrzehntelang säumig mit der Ausbildung eines regelrechten Klassenbewusstseins. Kein Wunder: Frankreich, revolutionär entflammbar wie keine zweite Nation, zerstreute noch zur Mitte des vorletzten Jahrhunderts die Masse der Werktätigen über ein Netz von Kleinbetrieben. Und Preußen hinkte industriell notorisch nach.

Vom "universellen" Arbeitsleid der Massen führte eben kein gerader Weg zur Weltrevolution. Karl Marx dürfte nicht nur der eigenen Heilserwartung auf den Leim gegangen sein, sondern auch den Kapitalismus hinsichtlich seiner Brutalitätspotenziale überschätzt haben. Natürlich wird in allen möglichen Weltgegenden weiter fleißig Elend produziert. Nur mit der Bildung einer "Klasse an sich", die zur "Klasse für sich" wird, hapert es beträchtlich.

Sieht man von der Gemeinde der Marx-Gläubigen ab, mit ihren Schuldienern und episkopalen Herrschern, wird man den genialen Improvisator Marx weiter als Ideenspender verwenden dürfen.

Wunderliche Schlüssel

Sein gigantisches Werk stellt die wunderlichsten Schlüssel bereit, die ein fortschrittlicher, umfassend bestückter Ideenbaumarkt jemals enthalten hat. Vom Marx lernen heißt auch, den Wert "schlechter" Nachrichten für das eigene Wohlbefinden schätzen zu lernen. Immer dann, wenn die Krisensymptome überhandnahmen und schon wieder ein paar hundert Firmen bankrottgegangen waren, wandelte den Sozialphilosophen eine Bärenlaune an. Er erhielt dann, wie seine Frau Jenny voller Dankbarkeit schrieb, die "Frische und Heiterkeit des Geistes" zurück.

Dergleichen nennt man Dialektik. (Ronald Pohl, 5.5.2018)