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Muttertag? Ein Tag, an dem alte Geschlechterrollen geehrt werden, sagt Soziologin Désirée Waterstradt.

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Désirée Waterstradt forscht zu Elternschaft.

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STANDARD: Muttertag – das sind das alljährliche Abfeiern traditioneller Mutterbilder, Liebesbekundungen von der Stange, Muttertagskitsch inklusive. Wird Mutterschaft damit überhöht und gleichzeitig entpolitisiert?

Waterstradt: Ja, neben vielem anderen wirken Mutter- und Vatertag wie ein Jungbrunnen, der veraltete Geschlechterrollen lebendig hält. Dabei ist der Muttertag eigentlich aus der Frauen- und Mütterbewegung des 19. Jahrhunderts entstanden, die sich für die Menschenrechte von Frauen einsetzte und sich gegen Krieg und die Verelendung von Familien wandte. Dazu zählte auch Ann Maria Reeves Jarvis. Sie gründete in den USA eine Mütterbewegung und stieß 1865 den Mother's Friendship Day an. Als sie 1905 starb, wollte ihre Tochter dies weiterführen und sie dadurch ehren. Aber einmal in der Welt, hat sich der Muttertag zu einem höchst eigenmächtigen Mechanismus moralischer Erpressung entwickelt. Genau wie der Vatertag löst er bei vielen bis heute Unbehagen aus.

STANDARD: Könnte man den Muttertag nicht wieder politisch umdeuten und zu einem Aktionstag machen?

Waterstradt: Tage, an denen alte Geschlechterrollen geehrt und gefeiert werden, erscheinen dazu heute eher ungeeignet. Als ein politischer Aktionstag dient heute eher der Internationale Frauentag am 8. März, der fast zeitgleich mit dem Muttertag entstanden ist. Er ist nicht beschränkt auf den Aspekt der Mutterschaft, sondern deckt alle Lebenslaufphasen von Frauen ab.

STANDARD: Unter dem Slogan "Willst du dir und deiner Mutter neue Brüste schenken zum Muttertag?" präsentierte der Radiosender Kronehit im vergangenen Jahr seine Muttertagsaktion "Tutti Kompletti". Die Idee, Mutter und Tochter eine Brust-OP zu spendieren, löste zu Recht eine Welle der Empörung aus. Aber was ist sexistisch daran, wenn Kinder Gedichte aufsagen oder das Frühstück ans Bett bringen?

Waterstradt: Dass sie das eben nur für Mama und nicht für Papa machen sollen. Solche geschlechterbezogenen Erwartungen sind noch immer allgegenwärtig und durchziehen unseren Alltag. Sie wirken als unsichtbare Kraft – oftmals idealisierend, sanft und wohlmeinend, aber nicht selten auch gedankenlos, rücksichtslos oder gar feindselig. Dieses gesamte Spektrum wird Alltagssexismus genannt. Wenn Paare heute ihr erstes Kind erwarten, haben sie meist sehr konkrete Gleichheitsideale: Sie möchte ihren Beruf nicht aufgeben. Er möchte eine fürsorgende, nahe Beziehung zum Kind haben. Beide möchten sich die Hausarbeit teilen. Dieses Selbstverständnis passt nicht mehr so recht zu den Geschlechterrollen des 19. Jahrhunderts, die vor rund 100 Jahren zur Entstehung von Muttertag und Vatertag geführt haben – denn die waren als sich ergänzender Gegensatz angelegt: der distanziert-autoritäre Vater und die selbstaufopfernd-liebende Mutter. Heute wird das aber immer weniger als Ideal empfunden, sondern als leidvolle Beschränkung für beide.

STANDARD: Gegen eine ungleiche Rollenaufteilung hilft auch kein Blumenstrauß. Sollte es statt des Muttertags einen Tag der Gleichberechtigung geben?

Waterstradt: Tatsächlich scheint die Entwicklung Richtung Elterntag zu gehen. Der erste Elterntag entstand 1937 auf den Philippinen, dann folgten 1973 Südkorea und 1994 die USA, und 2012 riefen die Vereinten Nationen einen Weltelterntag aus. Dabei sollen alle Eltern weltweit für ihr Engagement für ihre Kinder gewürdigt werden. Auch im deutschsprachigen Raum wächst das Bedürfnis nach einem Elterntag. Etliche Kindergärten und Grundschulen feiern nicht mehr Muttertag und Vatertag, sondern einen Elterntag.

STANDARD: Von der Glucke bis zur Rabenmutter, Helikopter- oder Latte-Macchiato-Mum: Für Mütter gibt es viele Schablonen. Wozu dienen sie?

Waterstradt: Als warnende Negativbilder sind sie das Gegenbild zur guten Mutter. Solche Positiv-negativ-Schablonen gibt es auch für andere Lebensphasen – Zicke oder braves Mädchen, Hure oder Heilige und so weiter. Sie wirken wie Zuckerbrot und Peitsche, mit denen gesellschaftliche Erwartungen an Verhalten und Empfinden eingefordert werden. Für Männer gibt es das selbstverständlich auch.

STANDARD: Mit der Idealisierung von Mutterschaft als dem "natürlichen" Beruf der Frau wollten die Nationalsozialisten den Emanzipationsbestrebungen entgegentreten und den Muttertag für ihre Zwecke instrumentalisieren. Wie viel Naturalisierung von Mutterschaft beobachten Sie gegenwärtig?

Waterstradt: Die Forschung zeigt, dass die geschlechtsspezifische Naturalisierung von Elternschaft alle Bereiche durchzieht. Nicht nur die Familien, auch familienbezogene Berufe und Wissenschaften sind davon geprägt. Es gibt weder eine wissenschaftliche Definition beziehungsweise Diskussion der Begriffe Eltern und Elternschaft noch ein Geschichte, Psychologie oder Soziologie der Elternschaft. Bislang sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht. Im Fokus stehen Eltern als gesellschaftspolitische Instrumente, aber nicht Eltern als Subjekte und Elternschaft als sozial bedingtes Kollektivphänomen.

STANDARD: Könnte der Muttertag nicht auch dazu dienen, sich bewusst zu machen, wie es um die Beziehung zur Mutter oder zu den Eltern generell bestellt ist?

Waterstradt: Bislang dient Geschlecht als zentraler Maßstab persönlicher Fürsorgeverantwortung in der Eltern-Kind-Beziehung – auch bei Mutter- und Vatertag. Wie geschlechtsspezifisch die Erwartungen bislang meist sind, zeigt eine Beispielfrage: Sollen Eltern nach der Geburt berufstätig sein? Die Antwort hängt bis heute davon ab, ob es um Mütter oder Väter geht. Im 20. Jahrhundert wurde Frauen die Hauptlast der Fürsorgeverantwortung sowie die prinzipielle Schuld für Probleme zugewiesen. Es ist nicht leicht, sich von dieser gesellschaftlichen Erwartung zu lösen, denn sie hat sämtliche Strukturen geprägt – vom Kindergarten- und Schulsystem über den Arbeitsmarkt bis zur Politik. Mutter- und Vatertag sind davon nur ein ganz kleiner Teil. (Christine Tragler, 10.3.2018)