Martin Scorsese betritt die Bühne des Kinos Grand Théâtre Lumiére. Man gewinnt den Eindruck, Standing Ovations machen den bedeutenden US-Regisseur nervös. In seinem typisch hastigen italoamerikanischen Singsang will er das Ritual schnell abwickeln. Er holt sich Verstärkung mit der einen Kopf größeren Cate Blanchett, der Jury-Präsidentin: "Wir erklären die Filmfestspiele von Cannes für eröffnet!" Trés charmant.

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US-Regisseur Martin Scorsese holte sich bei der Festivaleröffnung Unterstützung von Cate Blanchett.
Foto: REUTERS/Eric Gaillard

Erstmals sehe ich die Zeremonie live. Nicht im Lumiére selbst, sondern nebenan im Debussy als Direktübertragung. Es ist eine der Neuerungen in Cannes, dass die Wettbewerbsfilme für die Presse nun nicht mehr vorgezogen werden. Das Festival will damit die Exklusivität in ein Zeitalter retten, in der es mit der Exklusivität eine eher schwierige Sache ist. Die Meinungen kursieren so schnell durch die sozialen Medien, dass die Wirkkraft der Filme, altmodisch gesagt: ihre Aura, augenblicklich beschädigt wird.

Scorsese hat diese Beschleunigung in einem Gastbeitrag im Hollywood Reporter unlängst beklagt: Die "brutalen Werturteile", die schon am ersten Wochenende über Gedeih und Verderb eines Films bestimmen und auf Seiten wie Rotten Tomatoes (schon der Name sei eine Beleidigung) versammelt werden, hätten nichts mit richtiger Filmkritik zu tun. "Gute Filme von richtigen Filmemachern werden nicht gemacht, um entziffert, konsumiert und sofort verstanden zu werden." Das mag sich kulturpessimistisch anhören, falsch ist es freilich nicht. Eindeutige Botschaften garantieren höhere Aufmerksamkeit, deshalb hat das Handwerk der differenzierten Besprechung heute keinen allzu guten Stand.

Penelope Cruz (li.) und Javier Bardem in Asghar Farhadis "Everybody Knows".
Foto: Filmfestival Cannes

Mit Asghar Farhadis Everybody Knows, dem diesjährigen Eröffnungsfilm, bot sich gleich eine Arbeit an, bei der es abzuwägen gilt. Der iranische Oscar-Preisträger dringt mit diesem Film erneut ins moralische Dickicht einer Familie vor, er interessiert sich für die Geheimnisse, die unter den Oberflächen lauern. Weil er dies jedoch erstmals in Spanien tut, zumal mit den beiden Weltstars Penelope Cruz und Javier Bardem, trägt der Film auch eine Idee von Globalisierung in sich: Lässt sich ein künstlerischer Blick ohne Reibungsverluste in ein anderes gesellschaftliches Milieu übertragen?

Die Antwort fällt unentschieden aus. Farhadi hat ein verästeltes, ein wenig überambitioniertes Drehbuch geschrieben, das sich mehr als bisher ins Genre des Kriminalfilms vorwagt. Der Fall – eine Entführung während einer Hochzeitsfeier auf dem Land – dient ihm allerdings vor allem als Vorwand, um die Scheinheiligkeiten und den Klassendünkel einer Großfamilie zu sezieren. Im Mittelpunkt steht Laura (Cruz), die Mutter der Gekidnappten, und Paco (Bardem), ihre ehemalige Jugendliebe. Als sie nach Argentinien ging, hat sie ihm einst ihren Teil des Familienguts günstig übertragen — ein Schritt, den der Rest der Familie nie ganz verwunden hat. Die Anspannung ob des entführten Teenagers lässt alte Wunden und offene Rechnungen wieder zum Vorschein kommen.

Penelope Cruz als Laura in Asghar Farhadis "Everybody Knows".
Foto: Filmfestival Cannes

Anders als in früheren Arbeiten Farhadis wie Nader & Simin – Eine Trennung läuft das Aufblättern der Vergangenheit diesmal eher mechanisch als hintergründig ab, so als hätte der theatererfahrene Regisseur geglaubt, er müsse an der Dramatik realistischer Dramen à la Ibsen Maß nehmen. Das lässt den Film auf mich ein Spur anachronistisch, auch weniger dringlich wirken. Der spanische Mikrokosmos von Everybody Knows wirkt wie eine Kulisse, die einem zum Weltkino aufgestiegenen Filmemacher zum Spielplatz wird. (Dominik Kamalzadeh, 9.5.2018)