Weißgerber ist in seinem neuen Leben meist ohne Schuhwerk unterwegs. "Nur im Winter in Berlin ist das nicht so nice", erzählt er.

Foto: Christian Fischer

Christian Weißgerber war von 15 bis 21 in der deutschen Neonaziszene aktiv. Heute schreibt er an seiner Dissertation und arbeitet als Bildungsreferent. Im Gespräch mit dem STANDARD erzählt er von seiner Kindheit, wie er in die rechtsextreme Szene geriet und welche die größten Schwierigkeiten beim Ausstieg waren.

STANDARD: Sie gerieten mit 15 in die Neonaziszene. Was zog Sie an?

Weißgerber: Ich bin aus Eisenach in Thüringen, wo ich 1989 als Wendekind geboren wurde. Die Mauer in physischer Art war gefallen, die in den Köpfen nicht so wirklich. Meinem Vater zufolge gab es zwei Menschen: die hart arbeitenden, solidarischen Ostdeutschen und auf der anderen Seite die dummen und hinterhältigen, uns alles wegnehmen wollenden Westdeutschen. Das konnte später gut ersetzt werden durch andere Feindbilder, weil das strukturell den antisemitischen Erzählungen entspricht: die guten Deutschen und die bösen, rachsüchtigen Juden.

STANDARD: Wie war Ihre Kindheit?

Weißgerber: Ich wuchs mitten im Villenviertel von Eisenach auf, aber in einer Bruchbude, die nie renoviert wurde. Ich hatte ziemlich viele Freunde, die Millionärskinder waren, da gab es einen ziemlich starken Gegensatz von Arm und Reich. Leute denken, Nazis hatten Probleme daheim. Das stimmte bei mir. Meine Mutter ist weggegangen, als ich ein Jahr alt war. Mein Vater hat versucht, meine Schwester und mich aufzuziehen, kam nicht damit klar, es gab häusliche Gewalt. Wir Kinder mussten den Haushalt machen. Das Ungerechtigkeitsgefühl führte sicher zu einer frühen Politisierung bei mir. Ich wuchs in einem Herrschaftsregime auf, in dem mein Vater jederzeit Zugriff auf meinen Körper hatte.

STANDARD: War Ihr Vater politisch?

Weißgerber: Er machte dauernd alltagsrassistische Kommentare. Aber er hielt sich für einen ganz normalen Bürger, war sozialdemokratisch eingestellt. Er verurteilte es, als ich mich offen dem Nationalsozialismus zuwandte. Leute wollen Alltagsrassismus immer von sich wegschieben, da heißt es: Nur die bösen Nazis und Nationalpopulisten sind rassistisch.

STANDARD: Was hat Sie in der Pubertät an Neonazis fasziniert?

Weißgerber: Der Respekt vor dem radikal Bösen, das anderen Angst einflößte, faszinierte mich. Später hatte ich, wie die meisten Rechten, ein sehr ritterliches Bild von mir selbst. Zu Hause hieß es, die Nationalsozialisten waren böse, haben viele Menschen umgebracht und den Krieg angefangen. Aber man war auch schnell bei den Autobahnen, dass nicht alles schlecht war, dass die Nazis die Deutschen nur verführt hätten, Hitler eigentlich dumm war ...

STANDARD: ... und Österreicher.

Weißgerber: Das kam erschwerend hinzu. Zumindest wurde in solchen Erzählungen ohne Reflexion völlig Irrelevantes verbunden, um davon abzulenken, wie die Ideologie selber war. Als Jugendlicher kamen mir diese Nazis jedenfalls mächtig vor, Leute, die man aus Furcht auf Abstand hält.

STANDARD: Wo war Ihr Erstkontakt?

Weißgerber: 2004 kam die Agenda 2010, das neue Arbeits- und Sozialgesetz, gegen das viele Menschen auf die Straße gingen. Da nahm mich mein Vater mit, weil er mich politisieren wollte, aber ich fand die etablierten Parteien ziemlich langweilig. Nur der Block vorne, schwarz gekleidete Neonazis von der Kameradschaft Eisenach, die von allen angefeindet wurden, hat mich interessiert. Die haben das stoisch und souverän über sich ergehen lassen, bis eine Person mit Megafon sagte: Wir wollen ja auch nur gegen Sozialabbau demonstrieren – und für die Freiheit des deutschen Volkes. Das fand ich viel spannender.

STANDARD: Das hat Sie überzeugt?

Weißgerber: Ich hab mich schon davor über rechte Musik und historisch mit dem Nationalsozialismus beschäftigt. Mein Vater sagte immer "Wissen ist Macht" und wusste aus DDR-Zeiten, dass Geschichte immer von den Siegern geschrieben wird. Aus meiner jugendlichen Logik heraus besorgte ich mir dann geschichtsrevisionistische Literatur. Das war nicht einfach, das gab's ja nicht in normalen Buchhandlungen. Aber als Jugendlicher glaubt man, man weiß mehr als der Mainstream, man hat ein Geheimwissen. Eine Klassenkameradin war mit einem älteren Jungen aus der Szene zusammen. Der hatte ein Auto, was in der Provinz nicht unwichtig ist. Über ihn wurde ich in die Szene eingeführt. Er war mein Mentor. Wir besprachen Bücher, fuhren zu Konzerten.

STANDARD: Welche Musik haben Sie gehört?

Weißgerber: Typischen Rechtsrock, Landser, Stahlgewitter, den Liedermacher Frank Rennicke. Ich selbst kam aus der Punk-, Gothic-, und Metalszene. Es gibt natürlich auch Nazi-Metalbands wie Absurd aus Thüringen. Ich spielte selbst in einer Nazi-Metalband.

STANDARD: Wir verlief Ihre rechtsextreme Karriere weiter?

Weißgerber: Ich gründete eine Jugendorganisation, denn die meisten in der Szene waren schon Ende 20, Anfang 30, hatten Familie. Aktiv waren nur noch zwei von der NPD, aber die waren mir suspekt, weil sie für mich Bonzen waren. Trotzdem halfen sie mir, eine relativ unabhängige Jugendorganisation zu gründen.

STANDARD: Wie sind rechte Gruppen strukturiert?

Weißgerber: Drei bis vier sind im Führungskader, zwölf bis 15 kommen zu allen Treffen, und der Mobilisierungskreis umfasst bis zu 30 Leute, bei großen Konzerten 100, in Südthüringen bis zu 250.

STANDARD: In Eisenach findet auch immer das Wartburgfest der Burschenschaften statt.

Weißgerber: 2006 und 2007 war ich auch am Rand des Wartburgfestes, da haben wir auch mit den extrem rechten Burschenschaftern aus Deutschland zusammen im Brunnenkeller Nazilieder gesungen. Da gab es keine Berührungsängste.

STANDARD: Aus Thüringen stammten auch Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe vom NSU. Was haben Sie in Ihrer aktiven Zeit vom NSU mitbekommen?

Weißgerber: Ralf Wohlleben (mutmaßlicher Unterstützer des NSU, Anm.) war ein guter Freund von mir. Er ist Vater von zwei Kindern, ich hätte ausgerechnet ihm nicht zugetraut, irgendwas mit den Terroristen zu tun zu haben.

STANDARD: Was sind die häufigsten Gründe für den Ausstieg?

Weißgerber: Es gibt viele materielle Gründe. Mir sagen Schüler in strukturschwachen Gegenden wie Südthüringen: "Wenn die NPD ein Straßenfest macht, gibt es da eine Gratis-Hüpfburg, natürlich geh ich da mit meinem kleinen Bruder hin." Andererseits zog sich ein prominenter Identitärer zuletzt zurück, weil er sich in ein Mädchen der Antifa verliebt hat. Was ich beim Verein Exit, mit dessen Hilfe ich ausstieg, mitbekommen habe, sind es aber auch oft gerichtliche Verurteilungen. Ideologische Überzeugungen sind eher selten der Grund. Bei mir war es auch zuerst die Enttäuschung darüber, dass das Reformationsprogramm meiner Gruppe nicht geklappt hat. Ich wurde nicht über Nacht antirassistisch und antinationalistisch. Viele meiner Ex-Kameraden gingen einfach zu den Identitären. Deren Entwicklung und das neue Image, das sie alter Ideologie verpassen, wurde von den Medien total verschlafen.

STANDARD: Es gibt die Theorie, dass sich Linksextreme und Rechtsextreme am äußeren Rand treffen. Wo sahen Sie die Unterschiede?

Weißgerber: Das Hufeisenbild der Extremistentheorie scheitert eindeutig. Für die Menschen, mit denen ich Kontakt hatte, war ganz klar, dass das Menschenbild nicht zu vereinigen ist. Das rechte Menschenbild nimmt natürliche Unterschiede an, etwa zwischen Deutschen und Franzosen. Dieses Menschenbild mit seiner Rassentheorie basiert auf Ausschluss und Vernichtung. Das ist bei den Linken undenkbar. Manche bezeichnen Stalinisten als Linke, aber ich denke, da gibt es sehr starke Züge zu ersterem Menschenbild.

STANDARD: Und der Elitegedanke?

Weißgerber: Ja, deswegen wundert es ja auch wenig, dass bei der AFD, aber auch bei der FPÖ irgendwelche Burschenschafter, die sich als elitärer Kreis sehen, zum Hauptarbeiterfeld gehören, dass dort für parlamentarische Arbeiten angeworben wird. Es beschäftigen sich leider die wenigsten damit, dass die vermeintlichen Kritiker des Establishments selbst Elite sind. Aber in Deutschland wählen jene, die früher Arbeiterparteien gewählt haben, eben nicht mehr die SPD, weil ihnen die Hartz 4 gebracht hat. Die Zerstörung der DDR-Wirtschaft wurde außerdem nicht aufgearbeitet. Vielen, die früher in Ruhe arbeiten konnten und sich eine Wohnung und die Bildung der Kinder leisten konnten, brachte die Privatwirtschaft Nachteile. Diese Leute werden nicht ernst genommen, über die macht man sich noch lustig.

STANDARD: Etwa über ihre Postings mit Rechtschreibfehlern ...

Weißgerber: Ja. Die Rechtschreibung ist aber völlig irrelevant. Weil ein mit Rechtschreibfehlern ausgestellter Schießbefehl ist genauso tödlich wie der mit vollkommen perfekter Grammatik.

STANDARD: Wo würden Sie Leute, die nach rechts abdriften, abholen?

Weißgerber: Jeder muss in seinem eigenen Umfeld mit Leuten reden, anstatt sie in irgendwelche Talkshows einzuladen. Da müssen auch Probleme mit geflüchteten Menschen oder die Ängste von Frauen, die sich in manchen Bezirken unwohl fühlen, angesprochen werden dürfen.

STANDARD: Was war im Privaten besonders schwierig beim Ausstieg?

Weißgerber: Man darf nicht unterschätzen, wie stressig eine ernste Deradikalisierung ist. Vor dem Ausstieg wusste man jeden Morgen beim Aufstehen, wer die Bösen sind. Dann fehlt diese Klarheit. Bei vielen führt das zu Depressionen. Auch den Umgang mit der eigenen Sexualität musste ich neu lernen. Nazis entmenschlichen andere. Das kann auch auf zwischenmenschlicher Ebene zu großen Problemen führen.

STANDARD: Wo konkret?

Weißgerber: Schon mein Vater hat mich nicht in den Arm genommen, wenn ich weinte. Ich nahm dann auch meine Freundin nicht in den Arm, wenn sie weinte. Ich hatte ja nie gelernt, dass das etwas bringt. (Colette M. Schmidt, 11.5.2018)