Ulrike Meinhof erhängte sich 1976 in ihrer Zelle.

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Bettina Röhl, "'Die RAF hat Euch lieb'. Die Bundesrepublik im Rausch von 68. Eine Familie im Zentrum der Bewegung". € 24,70 / 639 Seiten. Heyne, München 2018

Das Kleid, ein Kleinmädchentraum. "Ein rosafarbenes Rüschenkleid, echter Spitzenkitsch", so erinnert sich die deutsche Journalistin Bettina Röhl an einen Besuch bei C&A in Westberlin im Sommer 1969. Dieses Kleid wollte die Siebenjährige haben, kein anderes.

Doch obgleich ihre Mutter versprochen hatte, sie dürfe sich etwas aussuchen, kam sie nicht zum Traumfummel. Denn, wusste die Mutter, das Kleid sei "ganz schlimm, das willst du gar nicht wirklich. Da bist du beeinflusst von deinem Vater." Die kleine Bettina und ihre Zwillingsschwester Regine bekamen dann andere Kleider, "mordshässlich" – wie sich Bettina Röhl erinnert. Und ihnen wurde wieder einmal bewusst: Ihre Mutter war irgendwie anders als die anderen Mütter.

Publizistin, Aktivistin, Journalistin, Mitbegründerin der Roten Armee Fraktion (RAF), "Staatsfeind Nummer eins" und auch Mutter – das war Ulrike Meinhof, geboren 1934. "Ulrike Meinhof war nie eine einfache Mutter oder nie einfach Mutter gewesen", schreibt die heute 55-jährige Röhl, die sich seit Jahren kritisch mit den 68ern auseinandersetzt.

Zwanzig Jahre Recherche

Die RAF hat Euch lieb lautet der Titel ihres neuen Buches, es ist ein Satz, den Meinhof ihren Töchtern aus dem Gefängnis schrieb. 20 Jahre hat Röhl recherchiert, Dokumente zusammengetragen, Korrespondenz gesichtet, mit Zeitzeugen gesprochen.

Ihre Motivation beschreibt sie so: Es gebe Hunderte von Büchern und Artikeln über ihre berühmt-berüchtigte Mutter, ebenso Dokumentar- und Spielfilme, in denen sie selbst und ihre Schwester Regine "als süße blonde Statisten des gruselig-schönen Dramas" auftauchten. Alle wussten "mehr von meiner Mutter als ich", so Röhl.

"Sie hatten die Unterlagen, die Materialien, das Wissen, und ich hatte nichts" – außer der Erinnerung an eine Frau, die sich immer mehr radikalisierte, ihre Töchter zurückließ, in den Untergrund ging und 1976 im Gefängnis Stuttgart-Stammheim Suizid verübte.

1967 konnte dies niemand ahnen. Bis zu diesem Jahr, schreibt Röhl, habe sich ihr Leben "in der Waage befunden". Sie und Schwester Regine wuchsen unbeschwert im feinen Hamburg-Blankenese auf, Mutter Ulrike und Vater Klaus Rainer Röhl, der Verleger und Herausgeber des Magazins Konkret, galten etwas in links-intellektuellen Kreisen.

Doch die Ehe zerbricht, Ulrike nimmt ihren Mädchennamen Meinhof an und zieht mit den Mädchen nach Berlin, wo sie sich der Studentenbewegung anschließt, was die Vernachlässigung der Mädchen mit sich bringt. Es gibt kein Frühstück, keinen geregelten Tagesablauf, die Kinder laufen dreckig und verwahrlost in den immer gleichen Pullis herum. Weihnachten wird gestrichen, dafür gibt es eine Mao-Bibel für Kinder und den Auftrag, "revolutionär zu sein" – wenn Meinhof nicht gerade schreibt oder schläft.

"Unregelmäßiges Essen, totale Übermüdung, ständige Rotznase, immer ungemütlich und kalt, und meine Mutter war zu einer wahren Diskutiermaschine geworden, ohne die realen Bedürfnisse der Menschen um sie herum auch nur wahrzunehmen", schreibt Röhl.

Von Traurigkeit oder Wut der Tochter liest man in diesem Buch kaum. Aber sie analysiert schonungslos: "Fakt ist: Meinhof war eine Frau, die ihre Mutterrolle nie gefunden hat." Oft bezeichnet Röhl ihre Mutter als Meinhof, dann wieder als Ulrike Meinhof oder als Mutter. Einmal ist von "Mami" die Rede.

Vortrag über Sozialismus

Eine Annäherung gibt es auch nicht, als Meinhof nach ihrer Flucht in Haft kommt. Nach zweieinhalb Jahren sehen die Zehnjährigen die Mutter zum ersten Mal wieder. Doch sie vermeidet, "darüber zu sprechen, wie es weitergehen sollte, mit ihr und mit uns". Stattdessen hält sie den Mädchen einen Vortrag über Sozialismus.

Auch der Briefkontakt ist dürr, Meinhof mit ihrem Kampf "gegen den Staat, die Welt, den Faschismus, den BGH (Bundesgerichtshof, Anm.), die Medien, die bösen Mächte" beschäftigt, wie Röhl schreibt. Die Töchter bittet sie, die Daumen für den Hungerstreik im Gefängnis zu drücken. Wenige Worte für die Kinder, aber ausufernde Korrespondenz mit den Anwälten – Röhl drückt dies nahezu unkommentiert ab. Es wirkt stärker als jedes Lamento. "Meinhof ist der personifizierte Irrtum der großen Bewegung der vergangenen Jahre", resümiert Röhl kühl und lässt auch die Meinung vieler, dass die Mutter eine Verzweifelte war, die da bloß irgendwie reinrutschte, nicht gelten: "Das Klagelied an Meinhofs Grab vermag jedoch nicht zu übersingen, dass Meinhof eine Terroristin war (...)." (Birgit Baumann, 13.5.2018)