Botho Strauß, "Der Fortführer". € 20,60,- / 210 Seiten. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2018

Botho Strauß lässt sich gewiss ungern nachsagen, er hätte mit der Welt, wie wir sie kennen, keine Geduld geübt. Doch irgendwann platzt dem deutschen Dramatiker i. R. in seiner Textsammlung Der Fortführer dann doch effektvoll der Kragen. "Die Welt ist insipide geworden!", ruft Strauß aus. Man meint, die Not des heute 73-jährigen Dichters mit Händen greifen zu können.

Es stimmt, Deutschland ist fade geworden. Nach dem Abebben der Flüchtlingswelle klatscht die Flut der Ereignisse nur noch schal auf den Pflasterstrand. Es gehört zu den Pointen einer ausgewogenen Botho-Strauß-Lektüre, die Bedeutung von Wörtern wie "insipide" ("fade, geschmacklos ...") im Netz nachschauen zu müssen.

Aber mit der Probe einer ins Abseitige tendierenden Gelehrsamkeit ist es nicht getan. Strauß wirft dem Befund der Fadheit einen Pflasterstein hinterher, der auch solides Verbundglas zerschlägt: "Debilwerden als Rasseschicksal." So heißt es im nämlichen Absatz auf Seite 184 von Der Fortführer. Und während man als konsternierter Leser rätselt, welcher Rasse hier welcher Befund ausgestellt wird, eilt man ein paar Textblöcke weiter und stößt auf folgenden Stoßseufzer: "Als noch Welten untergingen."

Der Zauber von einst

Man wird Strauß' Bedauern über die Untergangslosigkeit unserer Welt nicht teilen wollen, um nicht doch lebhaftestes Bedauern zu empfinden. Dieser verbitterte, zugleich ganz auf sein Elitenbewusstsein festgelegte Mann schrieb einst die bitter-klarsten, poetischsten und zugleich zauberhaftesten Theaterstücke der ausklingenden Bundesrepublik.

Es handelte sich um die reformmüde gewordene Welt von Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Strauß war ihr tiefenscharfer Beobachter. Als solcher legte er Zeugnis ab von der Austrocknung ganzer Seelenlandschaften. Er beschrieb, wie Städtebewohner bei Betrachtung einer Welt aus Spiegelglas und rostfreiem Stahl von einem Staunen ins nächste fielen. Er sah, wie Männer und Frauen einander tief in die Augen blickten, um sekundenlang heilige Schauder zu empfinden.

Vom Dichter der Paare, Passanten ist heute nur noch der Rechthaber übrig, ein auf intellektuelle Händel erpichter Einzelgänger. Botho Strauß erzählt nicht mehr, dem Theater hat er ohnedies den Rücken zugekehrt. In Der Fortführer findet man Reflexionssplitter und Aphorismen. Sie bilden die Miszellen zu einer Theorie der Profanität. Auf Deutsch: Strauß hört nicht auf, der Welt die – angeblich in ihr herrschende – Vulgarität zur Last zu legen.

Er schreibt: "Niemand weiß, wie weit die Menge reicht und wo die Unmenge beginnt." Aber indem er sich von "Verkleinerungsgewinnlern" umgeben wähnt, findet Strauß genügend Raum für die eigene Aufrichtung als Riese. Dann setzt er den "Hybridjargon der Rationalität" von der eigenen Erlebnistiefe ab und wähnt sich zeitlich auf der sicheren Seite. Zitat: "Bereits Warten verrät einen Mangel an Zeitverachtung." Man sollte sich die Zeit nehmen und das Verdämmern dieses ehemals großen Geistes studieren. (Ronald Pohl, 12.5.2018)