Von einer Liebe, die keinen Ort findet, um zu blühen: Musikerin Zula (Joanna Kulig) denkt in "Cold War" an ihren Wiktor.

Cannes

Der Sturm der Geschichte weht von rückwärts auf uns zu. Will man in den ersten Wettbewerbsfilmen eine Tendenz ausmachen, ist es ein Hang zu zeithistorischen Themen. Das hat gegenüber der immer konfuser wirkenden Jetztzeit den Vorteil, sich einzelnen Bruchstücken zu widmen. Was lässt sich aus dem herauslesen, wie wir uns früher als Gesellschaft verhielten? Wie wir etwa allein gekämpft oder gemeinsam geliebt und musiziert haben?

Der polnische Regisseur Pawel Pawlikowski hat damit Erfahrung. In Ida, seinem Oscar-gekrönten Drama um eine junge Nonne, ging es bereits darum, wie stark individuelle Lebensbahnen von äußeren Umständen abhängen. Sein jüngster Film Cold War fasst die Schicksale seiner Protagonisten noch deutlicher in einen politischen Rahmen ein.

Der Film beginnt im polnischen Hinterland von 1949, wo der Grundstein für die berühmt gewordene Mazowsze-Truppe gelegt wird. Kaum feiert sie mit ihren Volksliedern die ersten Erfolge, wird sie schon auf Hymnen auf Stalin umgepolt. Pawlikowski hat erneut in hochauflösendem Schwarzweiß gedreht und benutzt das enger fassende 4:3-Bildformat, um den Kalten Krieg durch eine melodramatische Schneise zu führen. In Ellipsen folgt er den Unwägbarkeiten der Liebe zwischen dem Dirigenten Wiktor (Tomasz Kot) und der Musikerin Zula (Joanna Kulig), die wiederholt durch Paranoia und Unfreiheit kompromittiert wird. Viktor verlässt schließlich das Land und flieht nach Paris; Zula bleibt in Polen zurück. Das Band zwischen den beiden erweist sich allerdings als reißfest.

Windstilles Paris

Ein romantischer Plot um eine Liebe, die keinen Ort findet, um zu gedeihen – das ist klassisches, ein wenig altmodisches Terrain, was die erlesene Inszenierung Pawlikowskis allerdings geschickt vergessen lässt. Die Sehnsucht und den Verschleiß der Gefühle buchstabiert er nicht aus. Er verknappt die Szenen, entwirft Noir-Bilder in einem windstillen Paris, Cool Jazz heißt die Musik dazu.

Ein Beispiel: Bei einem Gastspiel in Jugoslawien kommt es zur Begegnung der beiden. Zula erblickt Wiktor im Zuschauerraum. Als er am nächsten Tag nicht wieder kommt – er wurde verschleppt -, schließt sie auf der Bühne die Augen. Den Rest erzählt ihr Lied.

Während Cold War sein Melodram auf intensive 90 Minuten verknappt, legt Kirill Serebrennikow seine Rückschau auf ein Musikermilieu loser und weitschweifiger an. Der unter Hausarrest stehende Russe konnte nicht nach Cannes zur Premiere kommen. Sein Hauptdarsteller Roman Bilyk umschrieb den umstrittenen Prozess gegen den kritischen Künstler im STANDARD-Interview als ein Verfahren mit kafkaesken Zügen. Schon die letzten Drehtage musste das Team auf die Führung Serebrennikows verzichten.

Der liebevolle, sanft verklärende Blick des Films auf die Rockszene in Leningrad der frühen 1980er wirkt dafür erstaunlich kompakt. Wie in Cold War gibt es auch in Leto (Summer) Scharmützel mit Autoritäten. Bei den halbprivaten Konzerten achten Aufpasser darauf, dass die Ekstase nicht vom Kopf in den Körper hinuntersteigt, die Musiker halten ihre Gitarren präventiv im Zaum. Manchmal kippt der Film ins Spekulative, um gleich darauf mit einem Schild anzuzeigen, dass dies so ganz gewiss nicht stattgefunden hat. Serebrennikow versucht mit der Geschichte um die Rocker Mike (Bilyk) und Viktor Tsoi (Teo Yoo) eine Künstlergemeinschaft zu ehren, die noch aus purer Leidenschaft agierte. Ganz nostalgiefrei ist dies nicht, aber das weiß er vermutlich selbst. Er will mit Leidenschaft verführen. In den musikalischen Zwischenspielen, die wie frühe MTV-Clips animiert sind, lässt er Nummern der Talking Heads oder Lou Reed auch von Alltagspersonen singen.

Verluste und Ängste

Nicht ganz so weit zurück schweift der Blick in Christophe Honorés Plaire, aimer et courir vite (Sorry Angel). Romanhaft verzweigt erzählt er die Liebesgeschichte zweier Männer, die eine Generation trennt. Poetisch und beiläufig lernen sich die beiden während eines Kinobesuchs kennen. Honorés Ansatz bleibt rhapsodisch: Er malt sich Arthurs (Vincent LaCoste) sprunghaftes Leben in der Bretagne aus, das Dasein des HIV-positiven Schriftstellers Jacques (Pierre Deladonchamps) kennt schon mehr Verluste und Ängste. Spielerisch fängt der Film Farben, Akzente und Stimmungen ein und verbindet sie zu einer plastischen Form. (Dominik Kamalzadeh, 12.5.2018)