Die Familie Musenga (von links nach rechts Schwester, Vater und Mutter) zusammen mit ihrem Anwalt (rechts) bei der am Donnerstag einberufenen Pressekonferenz. Naomi Musenga verstarb bereits im November 2017.

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Naomi Musenga aus Straßburg war 22 Jahre alt, Mutter eines einjährigen Kindes und Mannequin für Modeschöpfer im Elsass. Wegen zunehmender Bauchschmerzen rief sie den Notfalldienst an, in Frankreich Samu genannt. Der publik gewordene Dialog mit der diensthabenden Angestellten geht nun durch die Medien.

"Hallo, bitte helfen Sie mir", sagt Naomi mit flehender Stimme. "Was ist los?", erkundigt sich die Samu-Mitarbeiterin barsch. Die Anruferin meint, ihr tue alles weh, vor allem in der Bauch- und Herzgegend. "Helfen Sie mir!", wiederholt sie. Schroffe Antwort: "Wenn Sie mir nicht sagen, was Sie haben, hänge ich auf. Rufen Sie einen Arzt an."

Folgenschwere Ignoranz

Naomi antwortet leise, sie schaffe dies nicht mehr: "Ich bin am Sterben." Darauf die Notruffrau, die sich offenbar mit einer Kollegin amüsiert: "Ja, eines Tages sterben wir alle." Naomi bittet die Frau nochmals inständig um Hilfe: "Ich habe Bauchschmerzen, starke Schmerzen." Als einzige Antwort kommt die Aufforderung, den kostenpflichtigen Service SOS Médecins zu kontaktieren. "Einverstanden", sagt Naomi kaum mehr hörbar.

Stunden später gelingt es ihr, einen SOS-Arzt aufzutreiben. Der ordnet umgehend die Einweisung ins Spital an – aber zu spät: Die junge Frau stirbt an einer inneren Blutung, die laut Autopsie eine unglückliche Folge mehrerer medizinischer Faktoren war.

Unterlassene Hilfesleistung

Der Fall sorgt in Frankreich für größte Empörung. Er hatte sich schon im vergangenen Dezember ereignet, war aber vorerst folgenlos geblieben. Deshalb publizierte die Familie der Verstorbenen nun das vorschriftsgemäß aufgezeichnete Protokoll und verlangte in einer Pressekonferenz am Donnerstag Aufklärung von der Justiz.

Jetzt reagierten die Behörden blitzschnell. Gesundheitsministerin Agnès Buzyn zeigte sich auf Twitter als "tief betroffen" vom "schwerwiegenden Fehlverhalten". Die Staatsanwaltschaft in Straßburg eröffnet ein Strafverfahren wegen "unterlassener Hilfeleistung für eine gefährdete Person".

Kein Ausnahmefall

Die langjährige Notfall-Angestellte wurde vom Dienst suspendiert. Wenn der Fall so hohe Wellen schlägt, dann auch, weil viele Franzosen die schroffe Behandlung aus eigener Erfahrung kennen. Dass sich selbst der staatliche Notfalldienst so gebärdet, ja über die Todesangst einer Anruferin verächtlich äußert, passt laut zahllosen Internetreaktionen ins Bild. Im März war eine 73-jährige Frau im Notfalldienst des Universitätsspitals Reims einem Herzinfarkt erlegen – nachdem man sie zweieinhalb Stunden lang in einem Korridor liegen ließ.

Der Vorsteher des Notfallarzt-Verbandes, Patrick Pelloux, spricht von Überlastung der Angestellten. "Die Anrufe an die 'samu' haben sich binnen weniger Jahre verdreifacht. Oft muss man zwischen ernsthaften und anderen Anrufen abwägen. Viele Helfer sind erschöpft, gestresst, unter Burnout leidend. Beim hundertsten Anruf wegen Brustschmerzen kann mal auch mal die Kontrolle verlieren." Bloß: Die Konsequenzen können tödlich sein. (Stefan Brändle aus Paris, 11.5.2018)