Ein Zehntel der Israelis sind strengreligiöse Juden. Gleichzeitig floriert die Start-up-Szene im Land.

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Als der Wiener Journalist Theodor Herzl gegen Ende des vorvorigen Jahrhunderts in einer dünnen Broschüre den Plan für einen modernen "Judenstaat" entwarf, nannte er im Vorwort seine Idee im selben Atemzug "eine recht verrückte Geschichte" und "vollkommen vernünftig" – und beides trifft auf das real existierende Israel irgendwie zu. 70 Jahre nach der gelungenen Staatsgründung sollte sich ja eigentlich die Einsicht etabliert haben, dass der Plan doch eher vernünftig gewesen sein muss. Doch nein: Mir will scheinen, dass, wenn von Israel die Rede ist, der Verstand oft nicht mitkommt und die Verrücktheiten überwiegen.

Das liegt einerseits daran, dass Israel voller wunderlicher Gegensätze steckt und einfach nicht zu erklären ist – sogar die Israelis schaffen es nicht, ihren Staat zu verstehen, wie kann man das also von Fremden erwarten? Verrückt ist ja schon einmal die geopolitische Lage. Israel ist als westliche Demokratie und stabiles OECD-Land im Orient ein Fremdkörper zwischen rückständigen, autoritären, putschenden, sich in Bürgerkriegen zerfleischenden, zerfallenden Nachbarstaaten.

Israel liegt in Asien, hat aber soeben zum vierten Mal den Eurovision Song Contest gewonnen. Einzigartig und kaum zu fassen ist auch Israels Entstehungs- oder Wiedererstehungsgeschichte: Ein Volk, das im Altertum besiegt wurde und sein Territorium verloren hat, löst sich nicht auf, sondern meldet doch tatsächlich 2000 Jahre danach wieder Ansprüche an. Damit geht die ebenso verblüffende Wiederbelebung einer Sprache einher, die 2000 Jahre lang tot gewesen war: Hebräisch ist heute für Millionen die Mutter- und Umgangssprache, in der nicht nur Bibeltexte ausgelegt, sondern auch Wahlreden gehalten, Kampfpiloten ausgebildet und Rap-Songs gesungen werden.

Stark und schwach zugleich?

In den Augen mancher mag Israel dabei wie ein Kolonialprojekt aussehen, aber halt auch wieder wie ein ziemlich irres. Denn Kolonisatoren werden ja von großen Mächten in fremde Gebiete geschickt, um diese auszubeuten, die Israelis hingegen sehen sich als Rückkehrer in ihre Urheimat, die sie aufbauen wollen, und die Gründerväter waren eher Bolschewiken als Imperialisten.

Wie auch immer: Das Verrückteste an Israel ist, dass seine Bürger und Bürgerinnen selbst nicht wissen, wie es ihnen geht. Dürfen sie ruhig schlafen, weil ihre Armee ja eine der besten der Welt und sicher die beste in der Region ist? Oder müssen sie sich sorgen, weil sie täglich zu hören bekommen, dass die Existenz ihres Staates nicht gesichert oder nicht berechtigt ist? Ist Israel stark, weil sein unmittelbarer Konfliktgegner, die Palästinenser, ihm nicht wirklich etwas anhaben kann, oder ist es schwach, weil es hunderten Millionen erklärten oder potenziellen Feinden in der arabischen und muslimischen Welt gegenübersteht? Dieses Hin und Her kann einen schon meschugge machen.

Der reine Wahnsinn ist ja etwa auch, dass mehr als ein Zehntel der Bevölkerung, nämlich die strengreligiösen Juden, irgendwo im 18. Jahrhundert feststeckt, während die Innovationssupermacht Israel, von der alle lernen wollen, wie man Start-ups macht, in der Relation mehr für Forschung und Entwicklung ausgibt als jedes andere Land. Außer der Kluft zwischen religiösen und antireligiösen Juden gibt es noch jene zwischen Juden und Palästinensern, Aschkenasim und Sephardim, Links und Rechts, Weiß und Schwarz, Jerusalem und Tel Aviv.

All das ist verflochten mit zusätzlichen rätselhaften Komplikationen: Die wohlhabenden Eliten wählen in Israel eher links, und je religiöser man ist, desto mehr ist man nicht für, sondern gegen den Staat. Der endgültige Beweis dafür, dass die Israelis ziemlich verdreht sind, ist darin zu finden, dass sie sich trotz der äußeren Bedrohung und der inneren Zerrissenheit zu den glücklichsten Menschen der Welt zählen. Im "World Happiness Report" liegt Israel konstant im Spitzenfeld, zuletzt auf Platz elf unter 156 Nationen und damit noch vor Österreich, wo doch die Seligen daheim sind.

Dieser Hauch von Irrsinn, der Israel umweht, rührt andrerseits auch daher, dass "die Welt" mit Israel irrational umgeht, und zwar schon so lange und mit einer derartigen Selbstverständlichkeit, dass es kaum mehr auffällt. So scheint man etwa überall davon überzeugt zu sein, dass die Strengreligiösen in Israel immer mächtiger werden. Schließlich wird einem das ja in Artikeln und Dokumentationen ständig erzählt. Von den unzähligen Beispielen, die belegen, dass der Einfluss der Strengreligiösen seit gut 20 Jahren zurückgeht, lässt man sich die so schön gruselige Legende vom "Gottesstaat" nicht kaputtmachen.

Israel-Obsession

In die gleiche Kategorie fällt der unerschütterliche Glaube, dass das rechte Lager in Israel immer stärker und stärker würde. Na ja, der Block der rechten und religiösen Parteien im israelischen Parlament ist zwar bei den letzten beiden Wahlen jeweils geschrumpft (von 65 auf 61 und nunmehr 57 Mandate), aber wer kümmert sich schon um mathematische Fakten, wenn er Zwangsvorstellungen hat? Anzeichen einer Obsession ist ja auch die extrem überproportionale Beachtung, die das objektiv kleine und unbedeutende Land seit Wochen (etwa auch in dieser Zeitung) wegen seines 70. Gründungsjahrestags bekommt.

Damit verknüpft ist gerade jetzt die weltweite Aufregung um die Verlegung der US-Botschaft. Ob die Tafel mit der Aufschrift "US Embassy" an einem Gebäude in Tel Aviv oder in Jerusalem hängt, ist an und für sich ohne praktische Bedeutung. Das Leben von Israelis und Palästinensern wird dadurch nicht verändert, und politisch halten die USA ausdrücklich an der Position fest, dass "die Grenzen der israelischen Souveränität in Jerusalem Verhandlungen zwischen den Parteien unterworfen bleiben".

Trotzdem ist im Dezember, zwei Wochen nach der Jerusalem-Erklärung von US-Präsident Donald Trump, eine "Dringliche Sondersitzung" ("Emergency Special Session") der UN-Generalversammlung einberufen worden. Anlass für einen solchen Schritt ist laut UN-Regeln die Gefährdung des Weltfriedens. Seit 1982 (!) wurde eine "Dringliche Sondersitzung" genau zwei Mal einberufen, mit insgesamt 18 Treffen – und jedes Mal ging es um Israel. In diesen Zeitraum sind etwa mehrere Kriege in der Golfregion, auf dem Balkan, in Afghanistan und der Syrien-Krieg gefallen, aber der Weltfrieden ist anscheinend nur gefährdet, wenn eine Botschaft nach Jerusalem verlegt wird. Wirklich "eine recht verrückte Geschichte". (Ben Segenreich aus Tel Aviv, 14.5.2018)