Filmfestivals sind Umschlagplätze. Wie auf einer umtriebigen Börse gibt es stets gegenläufige Bewegungen. Die Wahrnehmung hängt freilich stark von subjektiven Interessen ab. Einerseits wird in Cannes gerade viel von den Steuerbegünstigungen gesprochen, mit denen Saudi-Arabien ausländische Produktionen ins Land locken will. Das Branchenblatt Hollywood Reporter nennt andererseits schon zur Halbzeit fünf Gründe, warum sich an der Croisette angeblich alles im Niedergang befindet. Weniger Billboards an den Hotelfassaden, fehlende Publicity-Stunts, selbst der Umstand, dass man in den besten Restaurants noch kurzfristig Reservierungen bekommt – all dies seien untrügliche Zeichen für den Verlust der Einzigartigkeit.

Bisheriger Höhepunkt in Cannes: Adriano Tardiolo als Titelheld in Alice Rohrwachers "Happy as Lazzaro (Lazzaro felice)".
Foto: Filmfestival Cannes

Bei so viel Nostalgie für das Marktgeschrei muss man daran erinnern, dass die 71. Festivalausgabe in künstlerischer Hinsicht bisher einen äußerst starken Eindruck macht. Happy as Lazzaro (Lazzaro felice), der dritte Spielfilm der Italienerin Alice Rohrwacher, sticht aus dem Wettbewerb besonders heraus. Bei der Premiere am Sonntag währte der Applaus ganze 15 Minuten, die Filmcrew und auch Teile des Publikums waren ergriffen. Es war einer dieser raren Momente auf Festivals, bei denen endgültig ein Stern aufgeht.

Bei Lazzaro felice handelt es sich um einen Film, der sich von allen Zwängen entkoppelt. Er setzt auf die Kraft des Fabulierens, um unter der Oberfläche des Faktischen eine tiefer liegende Realität aufzudecken. Mehr noch als in Arbeiten wie Land der Wunder überhöht Rohrwacher eine realistische Erzählung mit volkstümlichen Elementen und verbindet auf diese Weise zwei Welten und deren Praxis ökonomischer Ausbeutung. Rohrwachers Held Lazzaro (Adriano Tardiolo) ist eine arglose, reine, ja heilige Figur wie aus einem Film von Pasolini. Er wird zum Wandler zwischen den Zeiten, versinnbildlicht in der Figur des Wolfes; so lässt er uns die Ungleichheit einer feudalen Gesellschaft mit jener der prekären Gegenwart vergleichen.

Adriano Tardiolo, Alice Rohrwacher und Luca Chikovani in Cannes.
Foto: APA/AFP/LOIC VENANCE

Rohrwachers Inszenierung ist realistisch und poetisch verdichtet, zugleich mit fein dosierter Komik durchsetzt. Ihre Kamerafrau Hélène Louvart hat auf Super-16-mm-Film gedreht, das verleiht den körnigen Bildern eine lebendige Textur. In der ersten Stunde lotet die Regisseurin in szenischen Miniaturen das Leben auf dem Hof der "Königin der Zigaretten", der Marquise de Luna, im ländlichen Inviolata aus. Arbeiter schuften hier noch in den 1980er-Jahren wie in lange zurückliegenden Zeiten ohne Lohn. Weil sie es nicht anders kennen, gibt es auch keine nennenswerte Rebellion.

Welt aus den Angeln

Alles ändert sich, als Lazzaro vom rebellischen Sohn der Marquise eingespannt wird, um dessen Entführung zu fingieren. In einem traumähnlichen Manöver wird dies Rohrwacher zur Gelegenheit, in ein postindustrielles Zeitalter zu wechseln. Wie sein biblischer Namensgeber taucht Lazzaro, ein Totgeglaubter, in den unwirtlichen urbanen Nischen der Gegenwart wieder auf. Die Hierarchien sind in den neuen Zeiten andere, die alten aber weiter intakt. Der Coup des Films liegt darin, dass er durch Lazzaros Blick unsere Welt aus den Angeln hebt. Wie dessen Unschuld berückt, wird in Szenen von tiefer Schönheit veranschaulicht. Zugleich heben sie die Risse im Sozialen hervor. Mehr kann Kino eigentlich nicht leisten.

Cine maldito

Um einen unvertrauten Blick auf die Gesellschaft geht es auch in Shoplifters von Hirokazu Kore-eda. Der Japaner lotet das Leben der Ärmsten aus, indem er eine Patchworkfamilie aus Dieben, Verstoßenen und entführten Kindern begleitet. Nun tritt mit einem kleinen, malträtierten Mädchen ein weiteres Mitglied hinzu.

Trotz der brenzligen Lage wird sie liebevoll aufgenommen. Koreeda war schon in Filmen wie Like Father, Like Son an "falschen" Familien interessiert, noch nie hat er sich jedoch so weit in Zonen hineingewagt, die moralisch als verwerflich gelten. Seine Beobachtungsgabe ist enorm, dadurch verliert er auch die Grauzonen dieser Familie nicht aus dem Blick. Doch selbst in der Ausbeutung finden sich eben Nischen der Innigkeit. (Dominik Kamalzadeh, 14.5.2018)