Frauen gingen in Ranchi auf die Straße, um für die Rechte der "Töchter Indiens" zu demonstrieren.

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Wer in Indien derzeit die Zeitungen aufschlägt, kommt aus dem Grauen nicht mehr heraus. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht von Vergewaltigungen an Frauen und Kindern berichtet wird. Vor zehn Tagen wurde im Bundesstaat Jharkhand eine 17-Jährige vergewaltigt und bei lebendigem Leibe verbrannt. Eine Woche zuvor war ein 16-jähriges Mädchen im selben Bundesstaat vergewaltigt worden. Die Täter wurden von der lokalen Dorfverwaltung (Panchayat) zu 100 Rumpfbeugen ("Sit-ups") und 620 Euro Strafe verurteilt und zündeten aus Rache das Haus des Opfers an. Das Mädchen starb an den Verbrennungen.

Doch diese Verbrechen wären vermutlich in der Flut der Nachrichten untergegangen, hätte nicht einen Monat zuvor der sogenannte "Kathua-Vergewaltigungsfall" für eine politische Krise gesorgt: Ein achtjähriges Mädchen aus dem Krisenstaat Jammu und Kaschmir war entführt und von mehreren Männern tagelang in einem Tempel vergewaltigt und danach ermordet worden. Ein Mord, der einen Sumpf aus Korruption, Politik und kommunaler Gewalt offenlegte, von dem die meisten wissen, aber über den nur selten gesprochen wird.

Acht Männer, darunter vier Polizisten, denen zum Teil vorgeworfen wird, gegen Geld Beweismaterial vernichtet zu haben, wurden nach dem Mord an dem Kind verhaftet.

Weiterer Fall

Zur selben Zeit kam ein weiterer Vergewaltigungsfall an die Öffentlichkeit: Eine 17-Jährige wirft einem Mitglied des Landesparlaments und der Hindu-Partei BJP im Bundesstaat Uttar Pradesh vor, sie vergewaltigt zu haben. Als die Polizei untätig blieb, versuchten sie und ihr Vater, sich vor der Residenz des Ministerpräsidenten Yogi Aditiyanath (ebenfalls BJP) anzuzünden. Der Vater starb kurz danach.

Nach Massenprotesten in der Hauptstadt Neu-Delhi sah sich Premierminister Narendra Modi gezwungen, das Wort zu ergreifen. Er versprach "Gerechtigkeit für die Töchter Indiens". Die beiden BJP-Minister aus Jammu und Kaschmir traten zurück. Die Regierung verschärfte das Strafmaß für Vergewaltigung an Kindern. Doch es ist unwahrscheinlich, dass die Todesstrafe, die nun darauf steht, viel verändern wird.

"Es ist ja bekannt, dass schärfere Strafen nicht abschreckend wirken", sagt Nishtha Gautam, Feministin und Redakteurin des Magazins "The Quint" aus Neu-Delhi. Vergewaltigung sei Ausdruck eines politischen Problems. In Indien würden sich die Mächtigen über Gesetze hinwegsetzen.

Justiz überbelastet

Dabei ist die indische Justiz notorisch überlastet. Nach Recherchen der Kinderstiftung (Bachpan Bachao Andolan) des Friedensnobelpreisträgers Kailash Satyarathi warten an indischen Gerichten rund 110.000 Verfahren wegen Kindesmissbrauchs auf ihre Bearbeitung. "Gewalt gegen Frauen, besonders in Nordindien, ist eine systemische, soziokulturelle Krise. Nordindien hat ein Problem mit toxischer Maskulinität", sagt Mihir Sharma, Senior Fellow bei der Observer Research Foundation, einer Denkfabrik in Neu-Delhi.

Großer Männerüberschuss

Patriarchalische Wertvorstellungen und moderne Medizin haben dazu geführt, dass Indien zu den Ländern mit dem größten Männerüberschuss weltweit gehört. Nach Angaben der offiziellen Statistik fehlen in Indien rund 63 Millionen Frauen. Obwohl es seit 2013 verboten ist, per Ultraschall das Geschlecht eines Kindes im Mutterleib zu bestimmen, werden heute sogar mehr Mädchen abgetrieben als früher – nicht zuletzt, weil die Familien auch in Indien kleiner werden. Es gibt daher genügend Ärzte, die gegen Honorar sicherstellen, dass ein Stammhalter geboren wird.

Auf 1.000 Buben kommen heute in Indien nur noch 918 Mädchen. In einer Gesellschaft, in der Sex außerhalb der Ehe für Frauen oft noch als Tabu gilt, führt das vor allem bei jungen Männern zu massivem Druck. Von einer "verkorksten Sexualökonomie" spricht der in Indien lebende Politikwissenschafter Klaus Voll. Zugleich hat die ökonomische Entwicklung vor allem in Städten auch Frauen ein bisher nicht gekanntes Maß an Freiheit eröffnet.

Als Mitarbeiterinnen in IT-Firmen oder Callcentern lassen sie oft die Enge des Elternhauses auf dem Land hinter sich, teilen sich Zimmer mit Kolleginnen, kleiden sich in Jeans und gehen abends auf ein Bier in die Bar. Viele Männer betrachten diese jungen Frauen als Freiwild. Der Mord an einer 23-jährigen Physiotherapeutin, die abends um neun Uhr mit dem Bus nach Hause fuhr und von einer Bande von Männern vergewaltigt wurde, führte 2012 zu Massenprotesten in Neu-Delhi.

Fälle oft in Familie

Geändert hat sich seitdem wenig. Denn wie überall auf der Welt finden auch in Indien die meisten Vergewaltigungen in der Familie statt. "Alle politischen Parteien sind gleichermaßen patriarchalisch", sagt Nishtha Gautam. Daher werde nur öffentlicher Druck etwas ändern. "Letztendlich sind wir es, die die Politiker an die Macht bringen. Die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger ist nicht sicher in Indien. Es muss für Politiker zum Risiko werden, das Gesetz zu ignorieren." (Britta Petersen, 15.5.2018)