Zur zentralen Eigenschaft von demokratischen Wahlen gehört es, dass es auch überraschende Wahlsieger geben kann und nicht vorgegebene Sieger schon feststehen. Demnach erfüllten die irakischen Parlamentswahlen vom 12. Mai eine der zentralen Eigenschaften von Demokratie. Zwar erreichte niemand eine absolute Mehrheit. Zum überraschenden Wahlsieger wurde trotz siegreichen Feldzugs gegen den IS allerdings nicht der amtierende Ministerpräsident Haider al-Abadi und dessen Wahlallianz, sondern ein schiitischer Kleriker, dem vor einigen Jahren noch niemand zugetraut hätte, jemals eine dermaßen wichtige Rolle im Irak zu spielen. Muqtada al-Sadr war in jungen Jahren nach dem Sturz Saddam Husseins zunächst als extremistischer schiitischer Heißsporn aufgefallen. Seine Milizen hatten damals gewaltsam die amerikanischen Besatzer bekämpft und waren nicht unwesentlich an der zunehmenden konfessionalisierten Gewalt im Lande beteiligt. Seine Basis hatte al-Sadr immer unter den ärmeren Schichten der schiitischen Bevölkerung des Irak, die er auch gegen das schiitische Establishment mobilisierte.

In den letzten Jahren erfand sich der aus einer prominenten Klerikerfamilie stammende Geistliche allerdings neu. Aus dem sektriererischen Heißsporn wurde ein irakischer Nationalist, der den Einfluss des Iran im Irak ebenso kritisierte wie die grassierende Korruption und Vetternwirtschaft. Als Gegengewicht zum iranischen Einfluss suchte der schiitische Kleriker sogar den Ausgleich mit Saudi-Arabien. Im Juli 2017 besuchte er Riad und traf dort mit dem innenpolitisch reformorientierten, außenpolitisch aber extrem anti-iranischen Kronprinzen Mohammed bin Salman zusammen.

Überraschungssieger al-Sadr, Foto von 2015.
Foto: AP/Karim Kadim

Al-Sadr dürfte mittlerweile für Saudi-Arabien der annehmbarste schiitische Führer im Irak sein und wer den Einfluss Saudi-Arabiens auf die US-Nahostpolitik kennt, kann damit auch annehmen, dass mittlerweile auch die USA mit einem Mann als politische Führungspersönlichkeit im Irak leben könnten, der diese noch vor etwas mehr als einem Jahrzehnt militärisch bekämpft hatte.

Aber auch der wichtigste politische Partner al-Sadrs in seiner Wahlallianz ist ungewöhnlich: Die Irakische Kommunistische Partei, einst die stärkste Kommunistische Partei der arabischen Welt, die schon viele politische Wandlungen durchgemacht hatte.

Irakische Kommunisten: Säkularismus und irakischer Nationalismus

Die 1934 gegründete Kommunistische Partei ist nicht nur die älteste politische Partei des Irak, sie spielte auch über weite Teile des 20. Jahrhunderts eine wichtige politische Rolle, ohne je selbst die politische Macht übernehmen zu können: In den ersten Jahrzehnten war ihr antikolonialer Kampf gegen den fortgesetzten Einfluss Großbritanniens zentral, unter dem Regime des Linksnationalisten Abdel Karim Qasim, der 1958 die Monarchie stürzte, hatte sie ebenso enormen Einfluss. 1963 beim ersten Putsch der arabisch-nationalistischen Baath-Partei, ließen in den Kämpfen mit den Baathisten und den politischen Verfolgungen der ersten Tage mehrere tausend Kommunisten ihr Leben.

Dies hinderte die Irakische Kommunistische Partei nicht daran, 1973 auf Anweisung Moskaus die Zusammenarbeit mit der Baath-Partei zu suchen und in deren Nationale Progressive Front und damit in die Regierung einzutreten, was zur Übernahme deren Massenorganisation und zur leichteren Zerschlagung der Partei Ende der 1970er-Jahre führte. In den 1980ern organisierte die Partei mit den Kurden zusammen den Widerstand gegen das Baath-Regime und beteiligte sich am bewaffneten Kampf gegen Saddam Hussein.

Nach der Etablierung einer prekären Autonomie in Kurdistan 1991 wurde 1993 aus der Kurdistan-Sektion der Partei die Kurdische Kommunistische Partei. In beiden Parteien, der Irakischen und der Kurdischen KP, waren über all diese Jahre besonders viele Intellektuelle organisiert. Noch heute kann man im Irak viele alte Lehrer treffen, die alle Mitglieder der Kommunistischen Partei waren oder noch sind.

In der konfessionalisierten Politiklandschaft nach 2003 taten sich die Kommunisten allerdings schwer. Zwar wurde die Partei reorganisiert und es gelang ihr, wieder Gewerkschaften aufzubauen. Bei Wahlen konnten sie immer nur einzelne Sitze gewinnen. Große Teile ihrer Mitglieder konzentrierten sich auf den Aufbau von NGOs statt auf die Parteiarbeit.

Kurdische Kommunisten am 1. Mai 2008 beim Maiaufmarsch in Suleymania.
Foto: Thomas Schmidinger

Mit al-Sadr brachten die Kommunisten einerseits eine gemeinsame Orientierung für die ärmeren Schichten, andererseits auch deren Kritik an Korruption und Klientelismus auf. Die KP unterstützte 2016 al-Sadrs Forderung, wichtige Regierungsposten mit Technokraten zu besetzen und massiv gegen die grassierende Korruption vorzugehen, und die Proteste, die im April und Mai 2016 zur Belagerung der Grünen Zone, des Regierungsviertels in Bagdad, führten. Gemeinsam ist der KP und den Sadristen ein gewisser irakischer Nationalismus, der sich sowohl gegen eine Bevormundung durch den Iran als auch gegen den US-amerikanischen Einfluss richtet. Differenzen gibt es allerdings in der kurdischen Frage: Während die Kurdische Kommunistische Partei die Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Kurdistans 2017 unterstützt hatte, ist al-Sadr sehr um die Einheit des Irak bemüht.

Proiranische Milizen als weiterer Sieger

Zu den Siegern scheint allerdings auch die von Hadi al-Ameri geführte Fatah-Allianz zu zählen, die sich vor allem aus pro-iranischen Angehörigen der Volksmobilisierungskräfte zusammensetzt, also jenen Milizen, die wesentlich zum Sieg über den IS beigetragen hatten. Angehörige dieser Milizen befinden sich auch auf anderen Listen, bei der Fatah-Allianz dominieren sie aber das Bild. Diese Liste dürfte auch jene sein, die am stärksten unter iranischem Einfluss steht. Sie steht unter den religiösen Schiiten gewissermaßen für das Gegenkonzept von al-Sadr. Statt eines irakischen Nationalismus propagieren sie einen schiitischen Konfessionalismus.

Auch diese Liste ist allerdings ein Neuling. Die alten Eliten, die von Haider al-Abadis Siegesallianz und der Rechtsstaatskoalition des ehemaligen Ministerpräsidenten Nouri al-Maliki angeführt wurde, wurden beide abgewählt. Dies mag mit der geringen Wahlbeteiligung zu tun haben, zeigt aber auch, dass die Iraker die notorische Korruption der alten Eliten und deren Vetternwirtschaft offenbar satt haben und sich nach etwas Neuem sehnen.

Kontinuität durch Wahlfälschung in Kurdistan?

Kontinuität scheint es nur in Kurdistan zu geben. Kurdische Medien hatten bereits am Sonntag in Hochrechnungen verkündet, dass die PDK 25 Mandate und die PUK 15 Mandate gemacht hätten, während die oppositionelle Gorran nur sechs, der neue oppositionelle Listenzusammenschluss "Neue Generation" (Naway Nwê) nur vier, Barham Salihs "Koalition für Demokratie und Gerechtigkeit" drei und die zwei kurdisch-islamischen Parteien zusammen nur je zwei Mandate gemacht haben sollen. Ala Talababi, eine frühere hochrangige PUK-Politikerin und Nichte Jalal Talabanis, die nach ihrem Rauswurf aus der PUK im Zusammenhang mit der Übernahme Kirkuks auf einer arabischen Liste kandidiert hat, scheint den Einzug ins Parlament verfehlt zu haben.

Dieser Wahlsieg der alten beiden Parteien, die sich seit 1991 das kurdische Gebiet aufteilen, mit den Peshmerga über ihre eigenen bewaffneten Parteimilizen verfügen und die sich durch eine traditionelle Nähe zur Türkei (PDK) und zum Iran (PUK) auszeichnen, dürfte allerdings nicht ganz regelgerecht zustande gekommen sein. Von Seiten der Oppositionsparteien kommen massive Vorwürfe der Wahlfälschung, die auch mit Videoaufnahmen von frühzeitig geöffneten Wahlurnen, Mehrfachstimmabgaben und anderen Aufnahmen untermauert werden. Schon am Sonntag verlangten deshalb alle anderen kurdischen Oppositionsparteien eine Wahlwiederholung in den von der PUK und PDK kontrollierten Gebieten. In Suleymania war es in der Nacht von Samstag auf Sonntag deshalb gar zu Schießereien zwischen PUK und Gorran gekommen. Bereits im Vorfeld der Wahlen war es im Herrschaftsbereich der PDK mehrmals zu gewaltsamen Übergriffen auf Oppositionskandidaten durch PDK-Anhänger gekommen.

Allerdings sind sich auch die beiden alten kurdischen Peshmergaparteien nicht einig. Am Montag beschuldigte auch die PUK die PDK der Wahlfälschung. PUK-Führungsmitglied Nasrullah Surchi bezichtigte in einer Pressekonferenz in der kurdischen Hauptstadt Erbil, die PDK in der Niniveh-Ebene und in Sindschar der Wahlfälschung zu Gunsten der PDK. Die PUK selbst wird wiederum vor allem der Wahlfälschung in Suleymania und Kirkuk beschuldigt.

Anhänger der Sairun-Liste jubeln über den Ausgang der Wahlen.
Foto: REUTERS/Thaier al-Sudani

Mandate für religiöse Minderheiten

Das irakische Wahlrecht sieht außerdem neun Mandate für religiöse Minderheiten vor, die fix an diese vergeben werden. Fünf dieser Mandate sind für die aramäischsprachigen Christen (Assyrer, Chaldäer) vorgesehen, um die sich dieses Mal sieben Listen bewarben. Zu den chancenreichen zählen die Rafidain-Liste der traditionsreichen Assyrischen Demokratischen Bewegung, die Vereinigte Bet Nahrain-Liste, ein Zusammenschluss der Bet Nahrain Patriotischen Union, der Bet Nahrain Demokratischen Partei und der Chaldo-Assyrischen Kommunistischen Partei, sowie der Chaldo-Syrisch-Assyrische Volksrat, der der kurdischen PDK nahesteht.

Je ein Minderheitenmandat wird für die Jesidi, Mandäer, Shabak und erstmals an die schiitischen Feyli vergeben. Den Jesidi, deren Zahl im heutigen Irak wahrscheinlich ähnlich hoch ist wie jene der aramäischsprachigen Christen und die zu den Hauptopfern des Genozids des IS gehörten, war ursprünglich ein zweites Mandat versprochen worden, was allerdings nicht rechtzeitig umgesetzt werden konnte. Um den einen jesidischen Quotensitz bewarben sich die PKK-nahe "Jesidische Partei für Freiheit und Demokratie" (PADÊ), der "Jesidische Partei für Bewegung und Fortschritt" und die "Jesidischen Fortschrittspartei". Die "Demokratische Partei der Êzîden" (PDÊ) von Haydar Sheshos Miliz HPÊ kämpfte nicht um diesen Sitz, ist allerdings in der Niniveh-Provinz im allgemeinen Wahlkreis angetreten.

Nach derzeit vorliegenden Ergebnissen konnte das Quotenmandat von Saib Khidir von der Jesidischen Fortschrittspartei erobert werden. Khidir gehört selbst der arabischsprachigen Minderheit unter den Jesidi an, die in der Niniveh-Ebene in Bashiqa lebt und hat sich vor allem als Anwalt schon länger hervorgetan.

Selbstverständlich kandidierten weitere jesidische und christliche Kandidaten auch auf anderen Listen für reguläre Mandate. Ob solche auch tatsächlich auf Vertreter dieser religiösen Minderheiten fallen werden, wird erst nach Vorliegen des Endergebnisses im Laufe dieser Tage feststehen.

Eine Wählerin nach ihrer abgegebenen Stimme.
AP Photo/Hadi Mizban

Gute Nachricht – unsichere Zeiten

Die gute Nachricht ist, dass diese Wahlen überhaupt durchführbar waren und offenbar zumindest in Teilen des Landes auch demokratisch genug waren, dass sie einen Machtwechsel ermöglichen könnten. Der Irak bleibt aber ein extrem instabiler Staat, dessen weitere Entwicklung auch von der regionalen Entwicklung abhängen wird. Sollte sich der saudisch-israelisch-US-amerikanische Konflikt mit dem Iran weiter zuspitzen, würde das auch für den Irak massiv destabilisierend wirken. Al-Sadr wird auch als Wahlsieger auf die Zusammenarbeit mit sehr unterschiedlichen Kräften angewiesen sein. Eine Stabilisierung des Irak ist hier nur denkbar, wenn der Irak nicht noch mehr in den großen Regionalkonflikt hineingezogen wird. (Thomas Schmidinger, 15.5.2018)