Diese arabische Übersetzung christlicher Schriften stammt aus dem 8. oder 9. Jahrhundert. Darunter verbirgt sich eine Illustration aus einem griechischen Werk zu Heilkräutern aus dem 5. oder 6. Jahrhundert.

Foto: St. Catherine's Monastery of the Sinai

Es ist eine "öde, heulende Wildnis" – heißt es im Alten Testament -, wo sich Gott in Gestalt eines brennenden Dornbusches zeigte und Moses die Zehn Gebote erhielt. Geografisch handelt es sich um die Sinai-Halbinsel, eine Wüste mit schroffen Granitgebirgen, die bereits ab dem vierten Jahrhundert nach Christus zahlreiche Einsiedler und Jerusalem-Pilger angezogen hat.

Auf diesem laut Bibel "heiligen Boden" am Fuße des Berges Sinai wurde etwa um 550 das älteste und immer noch bewohnte Kloster des Christentums gebaut: das Katharinenkloster. Mit ihm wurde auch der Grundstein einer faszinierenden Büchersammlung gelegt.

Wertvolles Geheimnis

Viereinhalbtausend Handschriften befinden sich in dieser abgelegenen Wüstenbibliothek, einige davon sogar noch älter als das Kloster selbst. Es ist ein Kulturschatz, der in sich ein wertvolles Geheimnis birgt. Denn von 160 dieser Handschriften weiß man, dass sie sogenannte Palimpsest-Blätter enthalten.

Dabei handelt es sind um abgeschabte und wiederbeschriebene Blätter, deren ursprüngliche Beschriftung meist kaum noch sichtbar ist. Da Pergament teuer und oft sehr schwer zu bekommen war, haben die Sinai-Mönche mitunter ihre bereits beschriebenen Blätter recycelt, indem sie die alte Schrift mit einem scharfen Messer abschabten oder mit Flüssigkeit abwuschen.

"74 der bislang bekannten Palimpseste haben wir im Rahmen unseres Forschungsprojektes aufnehmen können, zudem haben wir 50 völlig neue entdeckt", berichtet die an der Uni Wien und der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) forschende Byzantinistin Claudia Rapp. Fünf Jahre lang hat sie sich im "Sinai Palimpsest Project", einer Kooperation des Katharinenklosters mit der Early Manuscripts Electronic Library, gemeinsam mit rund 30 Experten aus aller Welt auf die Spur der ausradierten Texte gemacht.

Da diese klassischen, christlichen und jüdischen Schriften in zehn verschiedenen, zum Teil schon lange "toten" Sprachen verfasst worden waren – darunter Altsyrisch, kaukasisches Albanisch, Armenisch, Altgriechisch, Christlich-Palästinisch-Aramäisch, Latein oder Altäthiopisch -, brauchte man für die Textspurensuche Experten mit äußerst seltenen Kenntnissen.

Was diese spezialisierte wissenschaftliche Detektivarbeit aus der oft über tausendjährigen Versenkung zutage förderte, wurde kürzlich auf einer von der Universität Wien und der ÖAW organisierten Palimpsest-Konferenz in Wien präsentiert. "Die meisten der überschriebenen Texte sind Gebrauchsliteratur für den klösterlichen Alltag", berichtet Rapp. "Also liturgische, theologische oder erbauliche Schriften."

Spektakuläre Entdeckung

Aber es gab auch Überraschungen. Die wohl spektakulärste Entdeckung des Sinai-Projekts machte die Wiener Doktorandin Giulia Rossetto: Sie fand unter einer Handschrift ein bislang völlig unbekanntes Textfragment über die Jugend von Dionysos in altgriechischer Sprache. "Kopiert wurde dieser mythologische Text im 5. oder 6. Jahrhundert, verfasst wurde er wahrscheinlich schon ein Jahrtausend früher", sagt Rapp.

Ein nicht ganz alltäglicher Palimpsest-Fund ist auch die Abbildung einer Heilpflanze aus dem sechsten Jahrhundert, wobei der ursprüngliche heilkundliche Text, der um diese Zeit von den Mönchen kopiert wurde, noch um einige Jahrhunderte früher verfasst worden sein dürfte. "Durch die Palimpsest-Forschung können wir Texte über viele Jahrhunderte bis zu ihren Anfängen zurückverfolgen", erläutert die Byzantinistin.

Auch ein weiterer Beleg für eine altsyrische Version der Bibel, von der bislang nur zwei Exemplare bekannt waren, haben die Forscher im Sinai-Projekt gefunden. "Hier geht es um deutlich ältere Schriftstücke als die uns zugänglichen griechischen Textzeugnisse", sagt Rapp.

Wie aber können die ausradierten Schriften wieder lesbar gemacht werden? "Dazu nutzen wir Hightechmethoden aus der Medizin und der Weltraumforschung", sagt Rapp. Ihr Team arbeitet etwa mit der Methode des "transmissive light", bei der eine beleuchtete Scheibe unter eine Palimpsest-Seite gelegt wird. "Damit können wir sichtbar machen, wo sich die Tinte in das Pergament hineingefressen hat", sagt Rapp. "Anhand dessen lassen sich die ursprünglichen Schriftzüge erkennen."

Zum Einsatz kommt auch die "multi-spectral imaging"-Methode: Dabei machen sich die Forscher den Umstand zunutze, dass die beiden Schriftschichten und das Pergament die unterschiedlichen Wellenlängen des Lichts jeweils verschieden reflektieren. "Um den verschwundenen Text sichtbar werden zu lassen, machen wir von einer Palimpsest-Seite 33 Aufnahmen mit den unterschiedlichen Wellenlängen des Lichts", sagt Rapp.

Während das menschliche Auge nur drei Farben – Rot, Grün und Blau – erkennen kann, lassen sich mit mehreren Wellenlängen des Lichts die "spektralen Signaturen" des Pergaments und der zwei Tintenschichten deutlich besser voneinander unterscheiden.

Transdisziplinärer Ansatz

"Nur wenn Techniker und Handschriftenforscher zusammenkommen und sich gegenseitig über ihre Arbeitsbereiche informieren, können auch die technischen Methoden verfeinert werden", betont die Byzantinistin.

So bringen die "technischen Partner" im Sinai-Projekt etwa Know-how aus dem Computer Vision Lab der Technischen Universität Wien ein, während sich Experten von der Akademie der bildenden Künste mit photometrischen Messungen an der Suche nach den verborgenen Texten beteiligen. (Doris Griesser, 20.5.2018)