Der Blick auf Auschwitz: ein Totengedenken ohne (Stück-)Text.

Foto: Sonja Zugic

Der Zuschauer blickt von seinem Sitz wie ein Riese auf die Anlage von Auschwitz-Birkenau hinunter. Im Vernichtungslager hat soeben ein neuer Tag begonnen. Fast ungläubig nimmt man die strenge Anordnung des Lagers zur Kenntnis, die immer gleiche Geometrie von Plätzen und Abständen, von Gassen und Zäunen. Durch Letztere fließt Starkstrom.

Die kleinen grauen Baracken aus Karton bilden lange Spaliere. Durch die Mitte braust (zu einem späteren Zeitpunkt) eine Spielzeugeisenbahn. Sie bringt eine vieltausendfache menschliche Fracht an die Verladerampe. Es herrscht peinigender Alltag im größten Vernichtungslager, und dieses bildet den Kern, die innerste "Zelle" der todbringenden NS-Maschinerie.

Verdichtung von Zeit

Das nationalsozialistische Menschheitsverbrechen der "Endlösung" wurde von der Rotterdamer Off-Formation Hotel Modern vor rund 13 Jahren auf die Bühne gebracht. Die Produktion Kamp, hergestellt von Pauline Kalker und Herman Helle, ist noch immer nicht abgespielt. Sie dauert rund eine Stunde. Sie ist ein bestürzendes Beispiel für die Verdichtung von Zeit, wie nur Kunst sie zustande bringt.

Das Herz der Aufführung – sie ist ab morgen dreimal im Rahmen der Festwochen im Wiener Museumsquartier zu sehen – sind die Opfer. Zu Hunderten haben die Holländer kleine Menschenpüppchen geformt, ihnen Köpfe aus Plastilin aufgesetzt und Gliedmaßen aus Kettengliedern angehängt.

Man sieht die KZ-Häftlinge in den Close-ups winziger Kameras. Ihre Gesichter gleichen einander aufs Haar. Zugleich scheint sich jedes Opfer von seinem Nebenmann geringfügig zu unterscheiden. Drei Löcher bilden jeweils den Beweis für eine Individualität, die den Opfern von ihren Mördern aberkannt wird. Sie alle starren aus tiefen Augenlöchern. Der Mund scheint jeweils zum Schrei geöffnet, bleibt aber stumm.

Pauline Kalker und ihre beiden Mitstreiter bewegen sich mit sachlicher Behändigkeit durch den Parcours. Sie versetzen einige besonders präparierte Figürchen in Bewegung; lassen einen Häftling den Appellplatz schrubben, stoßen die Kiste weg, auf der jemand steht, um gehenkt zu werden. Die Mimikry von Hotel Modern macht vor keinem noch so kleinen Detail halt.

Akustisch abgebildete Barberei

Man registriert diese Akribie deshalb so genau, weil das Geschehen auf Leinwand übertragen wird. Die Farbgebung dieses Albtraums besitzt die Tönung von Sepia und Moos. Dazu läuft ein Soundtrack, der Natur- und Vogellaute einsetzt und doch nur die Barbarei akustisch abbildet. Der Schlag einer Schaufel gegen den Kopf eines KZ-Häftlings produziert ein Geräusch, das man nicht mehr vergisst. Unvergesslich bleiben die Gaskammern, die Krematorien.

Kamp wurde 2005 hergestellt. Pauline Kalker erklärt, dass sich "große" Themen hervorragend für das Equipment von Hotel Modern eignen würden: fingergroße Puppen. Vor Kamp hätten Kalker und ihre Mitstreiter den Ersten Weltkrieg nachgebaut (Der Große Krieg).

Kalker schoss dann ein, "dass mein Großvater in Auschwitz ermordet worden ist". Sie sagt, dass "dieses Thema in meiner Familie sehr dominant war. Die Schwierigkeit bestand darin, eine geeignete Form zu finden. Am Anfang dachten wir selbstverständlich, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Die Perspektive ist entscheidend. Mein Vater ist Jude, meine Mutter nicht. Mir war jedenfalls bange vor der Reaktion in meinem jüdischen Umfeld. Doch ich wurde ermutigt – schon um eine jüngere Generation mit der Shoah zu konfrontieren."

Gefährte Herman Helle stimmt zu: "Soll man ein Dutzend Häftlinge zeigen oder 300? Wo es in Wirklichkeit doch hunderttausende waren?" Das reale Auschwitz-Birkenau war rund 20-mal größer als das gezeigte Modell. Kein gesprochener Text trübt die Fernsicht auf die Todesfabrik. Der entscheidende Satz aus dem Mund von Helle: "Wir haben die Püppchen so klein wie möglich gemacht. Aber eben so, dass sie als Menschen unbedingt erkennbar bleiben." (Ronald Pohl, 17.5.2018)