Können Sie eine Liste mit den Vornamen all jener Personen erstellen, die Sie seit Ihrer Geburt kennengelernt haben? Fabian Seiz hat dafür ein paar Jahre gebraucht. Das Ergebnis dieser intensiven Erinnerungsarbeit ist eine Liste mit 1500 Namen beziehungsweise ein Kunstwerk: Autobiografie (2009–2015). Um seinen Bekannten die Peinlichkeit zu ersparen, auf der Liste nach ihren Namen zu suchen, hält Seiz sein "Leben" jedoch hinter einer Milchglasscheibe unter Verschluss. Die Erinnerungen bleiben also ihm vorbehalten. Ein gewisses System ist dennoch ablesbar: Freunde lernt man meist über Freunde kennen. 1500 entspricht zudem der durchschnittlichen Anzahl Menschen, mit denen man bis zu seinem 40. Lebensjahr in engerem Kontakt (gewesen) ist.

"Aus dem Frühwerk entstanden" – eine Formulierung, die auf Fabian Seiz’ Arbeit "H2O" ganz unmittelbar zutrifft: Altes hat er dekonstruiert, überdacht und neu zusammengesetzt.
Foto: Andrea Kopranovic

Es sind solche, mehr poetisch-versponnene als wissenschaftlich fundierte, Gedankenspiele, die Fabian Seiz (geb. 1975) in seiner Kunst weiterdenkt und bildhauerisch übersetzt: Teils gehen die Ausgangsideen auf Philosophen wie Georges Bataille oder Schriftsteller wie Raymond Russell zurück. Einer Romanfigur Russels ist auch der Titel seiner Ausstellung in der Wiener Galerie unttld contemporary entlehnt: tuli. Im Lateinischen meint "tuli" aber auch "ich habe hervorgebracht".

Pin-ups und Pappmaché

Seiz lacht verschmitzt, während er den Titel erklärt. Schließlich geht seinen "Hervorbringungen" eigentlich immer ein Akt der Zerstörung voraus: von Gegenständen ebenso wie von eigenen Arbeiten; manchmal – wie in der Serie New Old Paintings – auch von veralteten Frauenbildern. Aus einem Pin-up-Spielkartenset der 1950er-Jahre schnitt er die nackten Frauenkörper heraus. Nun richtet sich die Aufmerksamkeit auf das malerische Interieur, die teils völlig skurrilen Posen, aber auch auf das Material, das er an die Stelle der Körper gesetzt hat: Pappmaché.

Für das Kleister-Papierschnitzel-Gemisch hat der Künstler aber nicht alte Zeitungen verwendet, sondern frühe Zeichnungen und Skizzenblöcke. Es ist nur konsequent, dass er das eigene Werk nicht davor verschont, dekonstruiert, überdacht und neu zusammengesetzt zu werden: Denn zu Seiz’ grundlegenden Ideen zählt, dass jedes Ding Konstruktion ist und auch völlig anderen Zwecken dienen kann.

Das Museum in der Gitarre

Beispielsweise eine Gitarre: Seiz hat das Instrument auseinandergenommen und daraus ein Museum für Frühwerke (Modell) gebaut. Auf eine Realisierung des Modells kann Seiz verzichten. Schließlich hat er sein Frühwerk längst komprimiert und vom Zustand des "Schleimigen" und "Informen" (auf den Georges Bataille anspielt) wieder in Kunstwerke überführt: Zu diesen gehören die Installationen H2O und Atlas, aber auch zwei "Tafel"-Bilder, bei denen das Pappmaché gleichsam persönlicher Erinnerungsspeicher wie Quell diverser Bilddeutungen – Mondlandschaften oder Geografien – ist.

Interessanterweise hat Seiz für diese Form der Wertsteigerung durch Zerstörung ein altes Vorbild gefunden: den Potlatch. Bei diesem Ritual nordamerikanischer Ureinwohner, so erklärt Seiz, hat so mancher sein gesamtes Vermögen verloren. In einem Video schaut man dem Künstler dabei zu, wie er Papierquader zu dem Satz "Making My Art" zusammenbaut. Dann springt er hinein. Der Akt der Zerstörung wirkt befreiend, und doch schwingt Erns tes mit. Denn nach wie vor und viel zu oft ist der Preis, den man für das Kunstmachen zahlt, der eines finanziell abgesicherten Lebens. (Christa Benzer, 25.5.2018)