Susanne Scholl: "Tschetschenen wurden ins Mittelalter gebombt."

Foto: Robert Newald

STANDARD: Geraten Tschetschenen wegen einer Gewalttat, wie etwa wegen Mordes an einem siebenjährigen Mädchen, in die Schlagzeilen, denken und posten viele Menschen: Typisch Tschetschenen! Hatten Sie auch schon einmal diesen Reflex?

Susanne Scholl: Ich nicht, aber ich kenne ja auch Land und Leute – und gerade der aktuelle Mord ist schon gar kein Anlass für diesen Reflex. Der mutmaßliche Täter war offenbar ein psychisch schwerst gestörter Bursche, wie es ihn auch in einer original österreichischen Familie geben kann. Mit dem ethnischen und kulturellen Hintergrund hat die Tat überhaupt nichts zu tun.

STANDARD: Die Erfahrungen des Burschen, der mit zwei Jahren aus Tschetschenien nach Wien kam, können schon eine Rolle spielen.

Scholl: Natürlich. Dieser Bub wurde in einen Krieg hineingeboren. An seiner Tat gibt es nichts zu relativieren, aber ich gehe davon aus, dass er ein Trauma mitschleppt, und wenn es jenes der Eltern ist. Wer als Kind in Tschetschenien war, hat erlebt, wie Maskierte Verwandte verschleppten, Spielkameraden von Minen zerfetzt wurden – und während der russischen Bombardements haben die Großeltern in den Kellern erzählt, wie sie unter Stalin in Viehwaggons nach Kasachstan deportiert wurden und nur deshalb den Winter überlebten, weil sie sich in Erdlöchern eingruben. Da ist es kein Wunder, dass tschetschenische Familien unter schweren posttraumatischen Belastungsstörungen leiden.

STANDARD: Wenn also tschetschenische Jugendgangs in Massenschlägereien involviert sind ...

Scholl: ... dann ist das kein Zufall. Die jüngeren Männer verarbeiten ihre Traumata sehr oft in Gewaltextremen. Die Gesellschaft kümmert sich um diese Leute ja auch nicht. Bei den wenigen Betreuungsstellen, die Kriegsüberlebenden Behandlung anbieten, gibt es Wartelisten von mehreren Jahren, auch für die Kinder. Wir züchten psychische Zeitbomben heran, wenn wir nicht endlich helfen. Aber deshalb soll man noch lange nicht so tun, als ob alle Tschetschenen mit dem Messer im Mund herumrennen. Viele fressen alles in sich hinein und versuchen, sich anzupassen. Doch sie merken auch: Es nützt ihnen nichts.

STANDARD: Inwiefern?

Scholl: Sie bleiben Tschetschenen. Solange in ihrem Pass der Geburtsort Grosny steht, behandelt man sie als potenzielle Verbrecher. Die russische Führung hat eben auch im Westen erfolgreich das Vorurteil geschürt, wonach die Tschetschenen Banditen, Terroristen, Untermenschen seien. Das erlebt dieses Volk seit 200 Jahren. Als die von Stalin Deportierten in Sibirien oder Kasachstan ankamen, hat sich die örtliche Bevölkerung eingesperrt, weil ihnen gesagt wurde, da kommen Kannibalen. Dabei hatten viele in der Roten Armee bis Berlin gekämpft.

STANDARD: Die islamistischen Terroristen, die Russland als Grund für den Krieg nennt, gibt es in Tschetschenien aber tatsächlich.

Scholl: Der Islamismus ist eine Reaktion auf die von Russland geführten Kriege. Die Tschetschenen gehörten zu den liberalsten Muslimen, die ich kannte. Es war die russische Armee, die sie zurück ins Mittelalter gebombt hat – und terroristische Organisationen setzen sich immer dort fest, wo der Staat versagt.

STANDARD: Ein Großteil jener Menschen, die aus Österreich in den Jihad zogen, waren Tschetschenen.

Scholl: Auch das wundert mich nicht, denn diese Menschen haben keine Zukunft. Ich erinnere mich an einen Burschen in einem Flüchtlingslager in Tschetschenien, der nach dem Terrorüberfall auf das Musicaltheater in Moskau bedauert hat, dass er nicht dabei gewesen ist. Als ich erwiderte, dass er in diesem Fall bereits tot wäre, kam als Antwort zurück: "Na und? Wir haben eh kein Leben." Das Gleiche gilt für die Jugendlichen in Österreich. Sie sind nicht akzeptiert, der Staat droht ständig mit Abschiebung – doch zurück können sie nicht.

STANDARD: Wie ist die Lage in Tschetschenien?

Scholl: Tschetschenien ist ein Angstregime, wo eine gewalttätige Bande – biblisch ausgedrückt – mit Feuer und Schwert herrscht. Wer zurückkehrt, ist zum Abschuss freigegeben, hat kein Geld, kein Haus, meist keine Familie und wenig Chance auf Arbeit. Für so manchen Job muss man erst einmal viel Geld zahlen, die Korruption ist allgegenwärtig. Dazu kommt noch die Clanstruktur.

STANDARD: Worin besteht diese?

Scholl: Das Prinzip ist simpel: Die Ältesten entscheiden über das Leben der anderen, die Frauen haben zu tun, was ihnen Väter, Brüder, Onkel, manchmal auch Banden befehlen. Es gibt jedes Mal ein Theater, wenn eine Frau etwa einen Tataren heiratet und keinen Tschetschenen. Blutrache ist verbreitet. Selbst die Sowjets konnten diese archaische Struktur nie ganz zerstören, doch eine Zeitlang waren Frauen deutlich freier. Der Krieg brachte auch hier einen Rückschritt: Mit jeder Bombe wuchs das Gefühl, die Tschetschenen müssten zusammenhalten, sonst gehen sie unter.

STANDARD: Und dieses Clandenken haben Flüchtlinge mitgenommen?

Scholl: Schon. Wir machen es ihnen aber auch nicht leicht und verlangen, dass sie alles so machen wie wir. Wie sollen Sie aber? Die Männer sind so traumatisiert, dass sie nicht einmal anfangen können, Deutsch zu lernen. (Gerald John, 20.5.2018)