Foto: Aron Rosenfeld

STEFANIE SARGNAGEL: In der Lunzer Bilderbuchidylle bauen wir unsere von der mühseligen Reise und den vielen Gefühlen der STANDARD-Forum-User geplagten Psychen wieder auf. Ich lege mich in ein blühendes Margeritenfeld und schmiege mich an ein einheimisches Babyschaf, das vor Wonne eine kleine Erektion bekommt. Bei einem Spaziergang um den einzig natürlichen See Niederösterreichs entdecken wir ein unbewachtes Elektroboot und beschließen, es auszuborgen, um Österreich per Seeweg weiterzuerkunden. Nach 20 Minuten im Kreis fahren ohne eine Ausfahrt nach Salzburg zu finden, geben wir auf und stellen uns wieder an die Autobahn.

Frisch verliebte Silver Agers rasen in Oldtimercabrios an uns vorbei auf dem Weg in ihren fünften Frühling. Von einer jungen Frau, die uns als Qualitätsjournalisten vom STANDARD erkennt, werden wir mit nach Göstling genommen.

An der dortigen Tankstelle sammelt uns Gerti auf, eine Krankenschwester kurz vor der Pension, die gerade von einer dreiwöchigen Trekkingtour durch Nepal kommt und berichtet, wie Gewerkschafter dort Schulen aufbauen. Sie nimmt uns bis Steyr mit und bietet uns an, in ihrem Wohnzimmer zu übernachten. Wir sind hin und hergerissen angesichts dieses netten Angebots, entscheiden uns dann aber doch dazu, dem STANDARD mit einer saftigen Spesenrechnung eins auszuwischen und mieten uns im teuersten Hotel der Stadt ein und bestellen ein Spanferkel aufs Zimmer.

Abends begeben wir uns auf Empfehlung ins Cafe Treff, um die an uns nagende Niederösterreichdepression mit Zirbenschnaps zu heilen. Da es eine der wenigen Nightlife-Möglichkeiten in Steyr ist, erwarte ich mir unter dem Namen ein charakterloses Konsensbeisl, das niemanden abschreckt aber auch niemandem wirklich gefällt.

Doch das ansprechend gestaltete Lokal versetzt einen in die Atmosphäre eines Pariser 20er-Jahre-Cafés. Jugendstilgemälde zieren die Wände, antiquarische Kugellampen hängen von der Decke und die Kellner sind als Existenzialisten verkleidet. Rund um uns sitzen im schummrigen Kerzenschein in intellektuelle Gespräche vertiefte Paare. Von links hören wir den Satz: "Ohne Ordnung und Disziplin gibt es auch keinen Anarchismus." Von rechts: "Sie ist eine dem emotionalen Exzess sehr zugewandte Frau." Hier trifft sich die Steyrer Boheme seit 30 Jahren.

Eine Runde älterer Herren nimmt neben uns Platz. Es ist die lokale Jazzband Bodo and the empty Bottles. Sie haben sich in den 80ern in einem Volkshochschulkurs kennengelernt und wir kommen mit ihnen ins Gespräch. Neben Hitlers Schulzeit in Steyr geht es unter anderem um die Besiedelung des Steyrer Wehrgrabens in den 80ern durch – wie sie sagen – "Freaks" und damit um die bewegte Geschichte des legendären Kulturveranstaltungszentrums Röda, in dem ich schon zweimal gelesen habe und die in dem Film Jedem Dorf sein Underground erzählt wird.

Im Film "Jedem Dorf sein Underground" wird die Geschichte des Kulturveranstaltungszentrums Röda erzählt.
KUBIZEKATION KUBIZEKATION
Foto: Stefanie Sargnagel

ARON ROSENFELD: Wir verzweifeln über dem ausgedünnten Verkehrsaufkommen an der Landstraße nach Göstling. Eigentlich hätten wir erwartet, dass sich nach fünftägiger Berichterstattung in Österreichs meistgelesenem Online-Medium auf der Westautobahn kilometerlange Kolonnen von Autofahrern bilden, die einander die Reifen aufschlitzen, um in das unsagbare Privileg zu kommen, uns auf eigene Kosten möglichst komfortabel ins nächste Kaff zu kutschieren. Ich gieße meine Enttäuschung in einen Battle-Rap-Vers: "Deine Reime reichen nicht einmal für Austro-Pop / auf Erfolg wartest du länger als beim Autostopp".

Schließlich hält eine Sozialarbeiterin am Weg nach Steyr, die wir freudentaumelnd begrüßen, als handele es sich um die Ankunft eines motorisierten Messias. Nach einer kurzweiligen Fahrt deponiert sie uns im pittoresken Knotenpunkt des Trauntals. Die ältesten Bewohner gehören noch einer Generation an, deren Eltern ihnen sagenhafte Geschichten vom legendären Steyrer Bierstreik erzählten, dem zentralen identitätsstiftenden Ereignis in der mehr als tausendjährigen Stadtgeschichte der Eisenmetropole.

Als die Brauereien Oberösterreichs im Jahre 1908 überraschend beschlossen, den Bierpreis um zwei Kronen pro Hektoliter zu erhöhen, kam es vonseiten der Arbeiterverbände zu straff durchorganisierten Widerstandsaktionen, die das beschauliche Bundesland nachhaltig erschütterten.

Von Protesten ähnlichen Ausmaßes gegen das lokale Konzentrationslager zur Zeit des Nationalsozialismus ist nichts bekannt – der Österreicher kennt seine Prioritäten. (Stefanie Sargnagel, Aron Rosenfeld, 23.5.2018)