Das 71. Filmfestival von Cannes war mit einigen Steinen im Gepäck gestartet: den Debatten um Geschlechtergerechtigkeit und Missbrauchsskandale in der Filmbranche, dem schwelenden Konflikt mit dem Onlineriesen Netflix, dann noch den Unkenrufen der US-Filmbranche, die dem geschäftigen Publicitytreiben nach wenigen Tagen bereits ein Ende des alten Glanzes bescheinigte.

Schon bei der Programmpräsentation wurde die Verjüngung im Wettbewerb nur von einer Seite als Aufbruch gewertet; die anderen quälten sofort Phantomschmerzen, weil sie Namen wie Mike Leigh, Jacques Audiard oder Olivier Assayas vermissten.

Großer Gewinner: Die Goldene Palme geht heuer nach Japan, Hirokazu Kore-Eda empfängt sie für "Shoplifters"
Foto: AFP

Nach zwölf Tagen Festival wurden die kritischen Stimmen allerdings kreideweich. Das liegt freilich nicht daran, dass Cannes alle Konflikte aufzulösen vermochte. Das wäre gar nicht möglich. Die italienische Schauspielerin Asia Argento durchschnitt etwa bei der Abschlussgala am Samstag kurz das allgemeine Wohlempfinden, als sie ihre Vergewaltigung durch Harvey Weinstein ansprach.

Als sie hinzufügte, dass es auch heute noch Männer im Saal gäbe, die zur Rechenschaft gezogen werden müssten, wurde es kurz mucksmäuschenstill. "It is hard to stand as a woman", lautete der Versuch der Juryvorsitzenden Cate Blanchett, wieder zur Preisverleihung zurückzukehren.

Dennoch lässt sich am Ende sagen, dass Cannes seine Position als wichtigstes A-Festival der Welt behauptet hat – und zwar in seiner Kernfunktion, eine Bühne für aufregende und künstlerisch beeindruckende Filme zu bieten. Anstatt wie in den vergangenen Jahren allzu oft auf Starpower oder kontroverse Themen zu schielen, standen dieses Jahr mehr die Filmemacher im Zen trum. Gewiss, bei der Anzahl der Regisseurinnen herrscht weiterhin Nachjustierungsbedarf.

Witz und Empathie

Doch Filmemacher wie Alice Rohrwacher (Lazzaro felice), Paweł Pawlikowski (Cold War), der unermüdliche Jean-Luc Godard (Le livre d’image) und ein insgesamt starkes asiatisches Aufgebot waren dafür verantwortlich, dass der Jahrgang 2018 zu einem der besten der letzten Zeit wurde.

Die Goldene Palme an den japanischen Stammspieler Hirokazu Koreeda, der mit Shoplifters einen der feinstgewobenen Filme mitbrachte, passt in dieses Bild. Koreeda radikalisiert jene Themen um soziale Formationen, die ihn seit jeher bewegen. Mit Witz und Empathie beschreibt er das Miteinander einer Familie, in der niemand mit dem anderen verwandt ist: lauter Ausgestoßene, Diebe, gestohlene Kinder.

"Shoplifters": Utopische Familienbilder voller Witz und Empathie
Foto: Filmfestival Cannes

Der Coup des Films liegt darin, dass die Fürsorge, die dieses Lumpenproletariat füreinander aufbringt, gängigen familiären Modellen (und deren Gefahren) oft überlegen scheint. Koreeda entdeckt mithin dort, wo es niemand vermuten würde, einen Moment der Utopie. Er braucht dafür nichts beschönigen, denn von einer heilen Welt bleibt Shoplifters weit genug entfernt.

Gesellschaftliche Gefüge durch Perspektivenwechsel infrage zu stellen gelang noch zwei anderen Präzisionsarbeiten aus Asien. Elliptisch, konzentriert und zugleich komisch veranschaulicht Ash Is The Purest White von Jia Zhangke anhand seiner Hauptfigur Qiaos (Zhao Tao, seine bevorzugte Darstellerin), wie diese mit äußeren Entwicklungen nicht Schritt halten kann – und doch nie aufhört, beharrlich Widerstand zu leisten.

Zu oft begnügt sich ein auf Festivals geeichter Realismus damit, soziale Missstände aufzuzeigen (exemplarisch in Nadine Labakis Straßenkinderrührstück Capharnaüm). Jia oder der Koreaner Lee Chang-Dong arbeiten stärker mit einer Poesie der Verknappung, mit Auslassungen und Abwesenheiten, einer oft vernachlässigten Geheimkraft des Kinos.

Poesie der Verknappung: "Burning" von Lee Chang-Dong
Foto: Filmfestival Cannes

Burning (der Film mit den besten Kritiker-Votings) macht aus einer kurzen Erzählung von Haruki Murakami ein präzises Irrspiel um falsche Zeichen, einen Zeitlupenthriller um ein Figurendreieck, der eigentlich von sozialer Kälte und Ressentiments erzählt. Virtuos, wie er auf kleiner Flamme dahinglimmt, bis am Ende einer Feuer fängt.

Schöpfungsdrang

Der Witz von BlacKkKlansman von US-Regisseur Spike Lee liegt dagegen in der überspannten Kenntlichmachung von Extremen. Lee erzählt den wahren Fall eines schwarzen Cops (John David Washington), der in den 1970er-Jahren gemeinsam mit seinen Kollegen den Ku-Klux-Klan in filtriert. Das ist zuerst ziemlich komisch, gleitet dann aber zunehmend ins Formelhafte ab. Auch die Trump-Anspielungen sind ein wenig zu offensichtlich.

Die besten europäischen Arbeiten verstanden sich darauf, zu abstrahieren: stilistisch bravourös Paweł Pawlikowski, der in Cold War die wachsende Entfremdung eines polnischen Musikerpärchens auch darin spiegelt, wie es sich in seinem Schöpfungsdrang verbiegen muss.

Mit Alice Rohrwachers Lazzaro felice hätte es auch einen Film gegeben, für den die zweite Goldene Palme in der Geschichte des Festivals für eine Frau frei von geschlechterpolitischem Nachdruck geblieben wäre. Mit enormer Fabulierlust schließt die Italienerin quasifeudale Zustände einer Tabakplantage mit dem postindus triellen Elend der Großstädte kurz. Welche eine Ironie, dass der Film nun für Nordamerika von Netflix gekauft wurde. (Dominik Kamalzadeh, 21.05.2018)