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Liu Xia beim Begräbnis ihres Mannes Liu Xiaobo im Juli 2017.

Foto: Shenyang Municipal Information Office via AP, File

Von außen wirken die Häuserblocks in der Südstraße Yuyantan im Pekinger Bezirk Haidian wie eine normale Wohnsiedlung. Doch die Staatssicherheit ist unauffällig überall präsent. Sie überwacht die Wohnung im fünften Stock von Gebäude 17, hört dort geführte Gespräche ab und verwehrt Außenstehenden den Zutritt. In der Wohnung lebt Liu Xia alleine. Sie ist die Frau des vergangenen Juli an Leberkrebs gestorbenen Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo. Peking hatte ihn wegen seines Freiheitsappells "Charta 08" für einen demokratischen Aufbruch Chinas Ende 2009 als Umstürzler zu elf Jahren Haft verurteilen lassen. Auch nach Lius Tod muss seine Witwe weiter unter Hausarrest leben.

Erholung auf Staatskosten

Am Pfingstwochenende beobachteten Bekannte von Lu Siqing, dem Gründer des Hongkonger Informationszentrums für Menschenrechte und Demokratie, dass in Liu Xias Räumen abends kein Licht brannte. Lu ist einer ihrer wenigen früheren Freunde, dessen Anrufe sie annehmen darf. "Offenbar ist sie nicht zu Hause", schreibt Lu. Sie habe weder ihr Telefon abgenommen, noch wohnte sie, was sie gelegentlich darf, bei ihrem Bruder Liu Hui. Weitere Verwandte sagten dem Hongkonger Aktivisten, vermutlich hätten die Behörden sie auf Zwangsurlaub geschickt.

Erholung auf Staatskosten ist eine der grotesken Methoden aus der Trickkiste der Staatssicherheit. Vor wichtigen Parteiversammlungen, symbolhaften Gedenktagen wie der Erinnerung an das Tiananmen-Massaker vom 4. Juni 1989 oder Staatsbesuchen zwingt die politische Polizei potenzielle Unruhestifter, die Hauptstadt zu verlassen. Sie sperrt sie aber nicht ein, sondern eskortiert sie zum "Urlaubmachen" weit weg, bringt sie etwa in Hotels mit Meerblick unter. Es ist das human wirkende Antlitz einer zynischen Freiheitsberaubung. Die "Geurlaubten", wie das chinesische Wort dafür lautet, dürfen wieder nach Peking zurückkehren, wenn das heikle Ereignis vorüber ist.

Angela Merkel in Peking

Vermutlich will Chinas Führung nicht, dass die unter schweren Depressionen leidende und suizidgefährdete Liu am Donnerstag in Peking ist. Dann trifft die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel ein, die sich seit Jahren für die Aufhebung der Sippenhaft und des Hausarrests für Liu Xia eingesetzt hat. Bei ihrem vergangenen Besuch fragte Merkel Staatschef Xi Jinping zweimal direkt nach Lius Schicksal. Ende April bat auch der deutsche Botschafter in Peking, Michael Clauß, gemeinsam mit seinem US-Kollegen Pekings Führung, eine positive Lösung zu finden. Sie wolle ausreisen, hatte Liu Xia Pekinger Diplomaten immer wieder in vorab angemeldeten Telefonaten erklärt. An ihrem Hausarrest verzweifelt sie inzwischen so sehr, dass sie Ende April sogar Todeswünsche äußerte beim Anruf eines anderen alten Freundes, des in Berlin lebenden Schriftstellers Liao Yiwu: "Sterben ist leichter als Leben."

Dutzende Nobelpreisträger, der Pen-Klub und Amnesty haben vor Merkel sBesuch an Xi appelliert, Liu ziehen zu lassen. Auch der Tod ihres Mannes hatte nicht ihr Martyrium beendet. Sie verbrachte seither weitere zehn Monate unter Hausarrest, in dem sie schon eingesperrt war, seit ihrem inhaftierten Mann 2010 der Friedensnobelpreis verliehen worden war. Oslos Auszeichnung empfand Peking als seinen größten Gesichtsverlust. Die damalige Führung bis hin zum heutigen Staatschef Xi hat das dem Ehepaar nie verzeihen können.

Fotos und düstere Bilder

Kurz bevor Liu Xia in Hausarrest kam, war es auch das letzte Mal, dass DER STANDARD sie in Peking sah. Die introvertierte Künstlerin traf sich mit dem STANDARD, um französischen Wein zu trinken, den sie so liebte, und um zu erzählen, wie es ihrem Mann ging. Monatlich durfte sie ihn im 500 Kilometer entfernten Jinzhou-Gefängnis besuchen. Sie versicherte, eigentlich eine unpolitische Ehefrau zu sein, die die Umstände zur Anwältin ihres Mannes gemacht hätten. Ihren Fotos und düsteren Bildern, die sie malte und die sie später mit politischen Gedichten von Liu Xiaobo heimlich im Quartformat drucken ließ, merkte man an, dass sie von der Zukunft nichts Gutes mehr erwartete.

Das hat sie seinerzeit auch dem Schriftsteller Liao erzählt, wie er in seiner neuen Autobiografie "Drei wertlose Visa und ein toter Reisepass" schreibt. Sie habe sich nicht für das von ihrem Mann verfasste Freiheitsmanifest "Charta 08" interessiert, sagte sie ihm. "Trotzdem war mir klar, dass das nicht gutgehen konnte. Ich habe ihn gewarnt, aber es war nutzlos, da war nichts zu machen. Mir blieb nur, wie schon früher einige Male, geduldig auf die Katastrophe zu warten."

Staatsfeind Nummer eins

Als Frau des Bürgerrechtlers, der als Nobelpreisträger im Gefängnis zum Staatsfeind Nummer eins wurde, wurde auch Liu Xia sofort unter Hausarrest gestellt. Zwei Reportern gelang es zwei Jahre später dank einer Unaufmerksamkeit der Bewacher, in ihre Wohnung zu kommen. Die total überraschte Liu Xia beklagte ihr Leid: "Ich hatte mit ein, zwei Monaten Schikanen gerechnet. Ich hätte mir aber niemals vorstellen können, dass ich meine Wohnung nicht mehr verlassen darf, nachdem er den Friedensnobelpreis bekommen hatte. Ich denke, selbst Kafka hätte nichts Absurderes und Unglaublicheres schreiben können als das, was mit mir geschieht."

Unmenschliches Gezerre

Es kam noch grotesker. Vergangenes Jahr wurde der schwerkranke Liu Xiaobo in ein Haftkrankenhaus verlegt. Chinas Führung ließ einen deutschen und einen amerikanischen Krebsspezialisten einfliegen, um der Welt zu beweisen, dass sie das Menschenmögliche zu seiner Rettung unternahm. Über Bekannte der an ihre Schweigepflicht gebundenen Ärzte sickerte inzwischen durch, dass es zynisches Kalkül war. Die Ärzte fanden einen Patienten vor, dessen fortgeschrittene Tumore während der Haft entweder nicht behandelt oder nicht erkannt worden waren, weil er nicht sachgemäß untersucht worden war.

Die Behörden erlaubten nicht, dass Liu zur Behandlung ausgeflogen wurde, obwohl es die Ärzte empfahlen. Liu Xia erlebte das unmenschliche Gezerre aus Staatsräson um ihren Mann mit, das auch mit dem Tod nicht endete. Seine Asche wurde im Meer verstreut, damit es für ihn keinen festen Trauerplatz gibt.

Behörden handeln nach geltendem Recht

Chinas Funktionäre drucksen herum, wenn sie nach dem Unrecht gefragt werden, das der Bürgerin Liu angetan wird. So wie Anfang Mai Hua Chunying, die Sprecherin des Außenministeriums: "Liu Xia ist eine chinesische Staatsbürgerin. Die zuständigen Behörden handeln nach geltendem Recht."

Ein Fünkchen Hoffnung bleibt, nachdem Liu Xia offiziell mehrfach mitgeteilt wurde, sie solle doch nur noch ein wenig warten. Vielleicht erklärt sich ihr derzeitiges Verschwinden als Vorbereitung für ihre Ausreise und nicht als Maßnahme, um sie während des Merkel-Besuchs aus Peking fernzuhalten. Dazu müsste Präsident Xi über seinen Schatten springen. Das hat er noch nie getan. (Johnny Erling, 23.5.2018)