Die Berliner Kommune 1 (Hinteransicht) galt vielen deutschen 68ern als der Inbegriff der Befreiung von allen Konventionen.

Foto: Thomas Hesterberg/Süddeutsche Zeitung Photo

Betrifft: "Weder frei noch Liebe: Apersonale Geilheit als Prinzip", von Raphael Bonelli der Standard, 19./20./21. 5. 2018

Macht und Missbrauch

Eine der wesentlichen Errungenschaften der 68er ist die Selbstverständlichkeit, dass Vielfalt und Toleranz einen gesellschaftlich akzeptierten Wert darstellen. In unseren Breiten soll jeder nach seiner "Façon", auf je eigene Art glücklich werden. Manchmal ist diese liberale Haltung eine Herausforderung, weil damit auch jeder schreiben und veröffentlichen kann, was ihm gerade so einfällt.

Herr Bonelli meint zur Frage Freiheit und Liebe, dass die 68er einer narzisstisch dominierten apersonalen Sexualität die Tür geöffnet hätten, deren Ausübung die Menschen vereinsamt und unglücklich zurückließe. Kein Zweifel: Sexualität als Ausdruck und Ausübung einer persönli- chen oder personalen Beziehung zweier einander Liebender ist ein erstrebenswertes und beglückendes Ziel. Was in der rigiden Ablehnung der Befreiung auch der nicht an eine Person gerichteten Sexualität jedoch auf bedenkliche Art übersehen wird, ist der Umstand, dass die Gewissensnöte von Menschen, die mit der Unterdrückung ihrer gesellschaftlich nicht akzeptierten Neigungen kämpfen, viel eher zu Isolation, zu schweren Neurosen und auch zu Handlungen führen, die anderen beträchtlichen Schaden zufügen können.

Letzteres geschieht, wenn Abhängigkeiten ausgenützt werden und dies auf erstaunliche Art und Weise an diesem rigiden Gewissen vorbei. Besonders in den Jahren vor den Diskursen der 68er gab es wenig Bewusstsein für eine universell gültige Vorstellung von Machtmissbrauch, welcher nicht nur innerhalb gesellschaftlicher Parallelorganisationen wie einer Religionsgemeinschaft definiert und sanktioniert wurde.

Die Befreiung der Sexualität beginnt mitunter mit der Akzeptanz einer noch nicht an einer Person orientierten Lust (zuerst wird die Richtung entdeckt, dann wird auf andere zugegangen). Dass sich die Sinnlichkeit ihre manchmal bizarren Nischen sucht in unserer Entwicklung, ist seit Freud ein offenes Geheimnis. Diese befreiende Orientierungssuche ist gestört, wenn Sexualität genormt ist und im Dienste von Machtinteressen bestimmte Abweichungen sanktioniert werden.

Homosexualität, zumal männliche, war immer eine Herausforderung für patriarchale Systeme. Vielfalt ist anfänglich immer eine Bedrohung eines Herrschaftssystems. Es gibt keine Union von Staat und Religion mehr. Letztere hat als Disziplinierungsorgan ausgedient, und manch einer sucht nach dieser verlorenen Bedeutung. Die vormalige Staatsreligion hat damit einhergehend auch in ihrer hilfreichen Funktion an Bedeutung verloren, die immer auch darin bestand, zwischen selbstsüchtiger Befriedigung und personaler Begegnung unterscheiden zu helfen. Darauf wollte sich Herr Bonelli offensichtlich beziehen und hat der Sache aber einen Bärendienst erwiesen, indem er die befreiende Haltung der 68er für die immer schon existierende narzisstische Not der Menschheit verantwortlich macht, anstatt die sinnvolle Befreiung von der Repression mit zu bedenken.

Wie viele Kirchenangestellte haben im Zuge dieser Bewegung gelernt, zu ihren Neigungen zu stehen und sich nicht mehr an Abhängigen schadlos zu halten! Welchen Fortschritt hat die Bewegung in der Diskussion um Macht und Machtmissbrauch gebracht, der unbestritten auch ein auftretender Kollateralschaden im Experimentierfeld der Freiheiten war.

Aber der weitere Weg kann nicht ein Zurück zur Verherrlichung der Verdrängung sein, sondern der Fortschritt zur ständigen Aufgabe, sich in gelebten Beziehungen zu nicht Abhängigen auch der Frustration und den Schwierigkeiten zu stellen, die gelebte Beziehungen mit sich bringen. Diese differenzierte Haltung ist immer die aufwendigere Arbeit.

Unsinnig und ärgerlich wäre ein Standpunkt, der Machtmissbrauch in der Kirche einer zu laxen moralischen Haltung der Kirchenführung hinsichtlich der sexuellen Orientierung oder auch der sexuellen Betätigung der Lust wegen zuschreibt. Jede Ansicht, dass mit rigiden Vorschriften bezüglich eines lustvollen Erlebens von Sexualität zur Verbesserung der Beziehungsfähigkeit beigetragen werden kann, führt in eine Zeit zurück, in der eine Führungsclique so tut, als könnte sie sich an ihre Regeln halten, diese launig nach Belieben bricht und das Volk aber mit diesen Regeln gängelt. Als wäre dieses Spiel der selbsternannten Eliten nicht der Gipfelpunkt einer narzisstischen Orgie. (Walter Kabelka, per Mail)

Sich dem Trend widersetzen

Endlich ein Beitrag, der die Dinge beim Namen nennt. Man merkt, Bonelli spricht aus großer Erfahrung! Danke! Meine Eltern hatten Anfang der 70er-Jahre diese neue Bewegung durchschaut und uns anders aufgeklärt! Ich spürte schon damals, auch wenn ich oft allein dastand mit meiner Meinung, dass sie recht haben könnten. Ich habe mich ab 15 gegen die Aussagen der 68er gestellt und lebe heute noch immer in einer glücklichen Ehe mit meiner ersten großen Liebe; mit glücklichen Kindern, die selbst inzwischen glücklich verheiratet sind. Anders wie viele inzwischen einsame desillusionierte Schulkolleginnen und deren Kinder. Ich stehe zu ihnen, bin aber froh, dass mein Weg anders wurde! Ich bin dankbar für alle, die schon damals sahen, wo das hinführen würde, und sich dem Trend widersetzt haben! (Dagmar Kieninger, 6020 Innsbruck)

Bourgeoise Pausenclowns

"Wer zweimal mit demselben pennt, gehört schon zum Establishment", diesen Teil einer Unterhaltung zweier Studentinnen am Otto-Suhr-Institut in Berlin 1968 schnappte ein Redakteur der Frankfurter Rundschau auf und brachte ihn ins Blatt verbunden mit dem Impetus der Damen, dass "diese Revolution" männlich sei und "wir uns anzudienen" hätten. 40 Jahre später schrieb derselbe Redakteur eine ganze Rundschau-Seite über die "Karriere" seines Berichts. Die Presse hatte ihn umgedreht und daraus eine APO-Parole gemacht. Genauso sind die "68er" eine Presseerfindung. Den Summer of Love gab es 1967 in den USA tatsächlich. Die Mitglieder der Kommune 1 wurden von uns damals als Pausenclowns der Bourgeoisie verlacht, deren "Innerlichkeit" von Zielen wie Mitbestimmung, freier Wissenschaft und Aufarbeitung der Naziherrschaft sowie der Gegnerschaft zu Notstandsgesetzen und Vietnamkrieg ablenke. (Hans-Bernhard Nordhoff, per Mail)

Und die eigenen Leithammel?

Bonelli prangert "apersonale Geilheit" als Prinzip der 68er an. Er beschreibt den vielschichtigen Denker Herbert Marcuse unverblümt als "Leithammel" für diese Ideologie. Wessen Religion heute noch Waffen segnet und – trotz Aids – am Kondomverbot festhält, der sollte zunächst die eigenen "Leithammel" kritisieren und so zum Verständnis dafür gelangen, weshalb das Pendel der Sexualmoral für manche ins andere Extrem geschwungen ist. Das Motto "Make love, not war" war '68 inspirierend für so viele gesellschaftlichen Veränderungen und weltweit befreiend und es gilt auch heute noch. (Ernst Schwager, 1090 Wien) (23.5.2018)