In seinem umfangreichen Werk beschäftigte sich Lewis immer wieder mit dem Verhältnis zwischen dem Islam und dem Westen.

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Bernard Lewis, geboren im Mai 1916, kurz nach Sykes-Picot.

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Es gibt einen Begriff, der wie kein anderer für interventionistische westliche Politik im Nahen Osten steht: Sykes-Picot. Mit dem 16. Mai 1916 ist das Geheimdokument datiert, in dem sich Großbritannien und Frankreich ihre zukünftigen Einfluss- und Kontrollzonen rot und blau in die Karte des Vorderen Orients einzeichneten. Zwei Wochen nachdem die Diplomaten Mark Sykes und François Georges-Picot ihren Plan finalisiert hatten, am 31. Mai 1916, wurde in London der spätere große Orientalist Bernard Lewis in eine jüdische Mittelstandsfamilie geboren.

Seinen 102. Geburtstag hat er knapp nicht mehr erlebt, am Samstag ist Bernard Lewis in den USA gestorben, wo er seit 1974 lebte, später als US-Bürger. Der "große Orientalist": An dieser Beschreibung entzündet sich eine Kontroverse, die auch an den Nachrufen abzulesen ist. Die allermeisten davon sind respektvolle, auch enthusiastische Würdigungen. Bernard Lewis, dem Princeton-Professor, abzusprechen, dass er ein eminenter Gelehrter war, wäre wohl in der Tat einfach nur dumm.

Aber da gibt es auch offen feindselige Töne: Er sei als Berater der US-Politik der intellektuelle Hohepriester der verheerenden Kriege im Nahen Osten gewesen, ein Reduktionist, der die 1,8 Milliarden Muslime weltweit in einen Topf geworfen habe, einer, der die islamische Welt als das Andere schlechthin beschrieb. Dieser Vorwurf kommt aus der Schule von Edward Said (1935–2003), der in seinem berühmten Buch von 1978, "Orientalism", die Theorie dazu lieferte. Lewis und andere würden ein westliches Wissenssystem über den Orient konstruieren – und als politisches Machtinstrument zur Verfügung stellen.

Der österreichische Iranist Bert Fragner relativiert die persönliche Kontroverse zwischen den beiden allerdings, als er von einer öffentlichen Diskussion zwischen Lewis und Said in Boston 1986 erzählt, moderiert von einem am Schluss etwas verwirrten Elie Wiesel. Denn Said, der Palästinenseraktivist, und Lewis, der Israel-Unterstützer, waren im Prinzip übereingekommen, dass nichts Substanzielles sie trennte, mochten ihre Blickwinkel auch sehr unterschiedlich sein, erzählt Fragner dem STANDARD.

Islamische Welt vs. Abendland

Den Vorwurf der essenzialistischen Reduktion auf "den Islam" bei Lewis könne man so nicht stehen lassen, sagt Fragner. Zwar sei er derjenige Nahost-Historiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen, der "prononciert ein Konzept einer kohärenten islamischen Welt vertreten hat, einem europäischen Abendland entgegengestellt". Die von ihm konzipierte islamische Welt habe Lewis aber in einer breiten historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Vielfalt gesehen und dargestellt. Lewis sei kein Stagnationstheoretiker gewesen, wie ihm das oft vorgeworfen wird.

Durch Lewis stark historische Sicht – etwa durch seine osmanischen Studien – auf zeitgeschichtliche Verhältnisse mag das anders ausgesehen haben: Dazu trägt bei, dass sich ein Teil des umfangreichen Werks mit der Beziehung zwischen dem christlichen Westen und dem islamischen Osten beziehungsweise dessen "Zurückbleiben" befasst, wie es ja schon der libanesische (drusische) Autor Shakib Arslan 1930 genannt hatte. In Lewis' späterer Karriere hatten Titel und Formulierungen tatsächlich immer öfter einen Tonfall wie aus Broschüren für die Politikerfortbildung: So sprach er schon 1990, also sieben Jahre vor Samuel Huntingtons Buch, vom Clash of Civilizations, als er die "Wut der Muslime" (The Roots of Muslim Rage) erklärte oder 2002, was "schiefgelaufen" war (What Went Wrong).

Da lief es allerdings bei Lewis selbst auch gerade nicht ganz richtig: Es ist nur schwer zu erklären, wie dieser gelehrte Mann dem Irakkrieg-Propagandisten Ahmad Chalabi, der bei der Beschaffung der Falschinformationen für die US-Invasion 2003 eine führende Rolle spielte, so auf den Leim gehen konnte. "Mein Freund Ahmad Chalabi" konnte nichts von dem halten, was er der Regierung von George W. Bush im Irak versprochen hatte. Aber Lewis glaubte selbst fest daran. In einem Interview mit der Autorin 1998 bezeichnete er die Annahme, der Irak könnte nach einem "regime change" im Bürgerkrieg versinken, als "plausibel – aber falsch".

Er war der Promi-Intellektuelle der Neocons, und die Verehrung für ihn ist mit Figuren von damals auch in die aktuelle US-Regierung eingezogen. Am Wochenende fand Außenminister Mike Pompeo neben seiner Iran-Brandrede noch Zeit für einen Tweet: "Einen großen Teil seines Verständnisses des Mittleren Ostens" verdanke er Bernard Lewis. Vielleicht meint er dabei ja genau die "Get tough"-Empfehlung Lewis': Den nahöstlichen Regimen müsse man eins zwischen die Augen geben, das würden sie verstehen, wurde er einmal zitiert.

Nicht auf diesen Ausspruch bezogen, aber allgemein, sagt jedoch Bert Fragner: Lewis sei eine zuspitzende Formulierung, ein Aperçu, manchmal "genau so viel wert wie eine tiefschürfende Argumentation". Er war witzig, er war eitel. Für die einen sei er das "überragende Genie", für die anderen der "leibhaftige Teufel", sagte Lewis einmal selbst. Der Kulturhistoriker Ian Buruma stellte im New Yorker 2004 die Diagnose "Zu viel Liebe". Die Enttäuschung darüber, dass sein geliebtes Objekt, der Orient, "krank" sei, habe Bernard Lewis wünschen lassen, dass die USA diesen heile. (Gudrun Harrer, 23.5.2018)