Der türkische Wahlkampf hat bereits begonnen – es ist wieder Saison für Istanbuler Flaggenverkäufer.

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Ankara – Als die Türkei erwacht, haben die Finanzmärkte schon weiter an der Währung gesägt. Jeden Tag ein neuer Tiefstand, jede Stunde ein vergeblicher Kampf gegen das Abrutschen. Auf die Marke von fünf Lira für einen Dollar steuerte die türkische Währung am Mittwoch zu. Am Vortag galten noch die 4,66 als unglaublicher Negativrekord. Die Türkei steht kurz vor einer Währungskrise, warnen Analysten.

Doch sie steht auch vor einer der wohl wichtigsten Wahlen in der bald 100-jährigen Geschichte der Republik. In einem Monat, am 24. Juni, wählen die Türken Präsident und Parlament. Es geht um Demokratie oder Alleinherrschaft, sagt die Opposition. Staatschef Tayyip Erdoğan wollte einer Wirtschaftskrise zuvorkommen und setzte eineinhalb Jahre vor dem Termin Neuwahlen an. Trotzdem war er nicht schnell genug.

Panik griff am Mittwoch im Istanbuler Finanzviertel um sich. Schadenfreude mischte sich bei Erdoğans Gegnern dazu, nervös waren seine Gefolgsleute in den Manageretagen. Alle kennen die Optionen, die jetzt zur Wahl stehen: massiver Devisenverkauf der Zentralbank zur Stützung der Lira, deutliche Erhöhung der Leitzinsen, Einführung von Kapitalkontrollen. Doch Erdoğan ist ein Gegner restriktiver Geldpolitik. Erst am Abend, nach drei Wochen Dauersturz der Lira, beschloss der Zentralbankrat die Erhöhung des Leitzinses von 13,5 auf 16,5 Prozent. Daraufhin zog der Kurs der Lira kräftig an.

Erschöpfter Kandidat

Das System Erdoğan scheint wie gelähmt. 15 Jahre dauert nun die Herrschaft des gewieften Politikers über sein Land an. Immer mehr Macht zog der heute 64-Jährige an sich. Doch sein Wahlkampf, der jetzt anläuft, ist von einer seltsamen Flauheit geprägt. Viele Türken haben sich an Erdoğan sattgesehen. Erschöpfung attestiert ihm eine seiner Herausforderinnen, die rechtsnationale Politikerin Meral Akşener, Chefin der neuen Guten Partei.

Doch dass Erdoğan am 24. Juni und in einer möglichen Stichwahl um das Präsidentenamt zwei Wochen später, am 8. Juli, abgewählt würde, scheint in der Türkei kaum vorstellbar. Muharrem İnce, sein anderer wichtiger Gegner von der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, tönte diese Woche auf einer Wahlkampfveranstaltung, er werde nach seinem Sieg das "Durcheinander" aufräumen müssen, das ihm Erdoğan und dessen Partei hinterlasse. Und er habe auch schon einen Plan dafür, behauptete İnce. Es klang wie aus einer anderen Welt.

Online-Zensur

Anderes dafür nicht. Wenn er zum Präsidenten gewählt würde, sagte İnce, ein 54-jähriger Berufspolitiker und früherer Physiklehrer, könnten die Türken wieder frei twittern und Wikipedia lesen. Seit einem Jahr ist der Zugang zu diesem Internetlexikon gesperrt. Die türkische Regierung nahm nicht hin, dass sie in einem Beitrag als zeitweilige Unterstützerin der Terrormilizen "Islamischer Staat" (IS) und Al-Kaida in Syrien aufgelistet worden war.

Ob eine Mehrheit der Türken tatsächlich ein Problem mit der Einschränkung ihrer Meinungsfreiheit hat, mit dem Ausnahmezustand und den Massenentlassungen angeblicher Staatsverschwörer, wird sich bei dieser Wahl zeigen. Das Referendum für den Wechsel zu einer Präsidialverfassung gewann Erdogan im April 2017 nur knapp. Seither verdoppelte er die Anstrengungen, seine konservativ-sunnitische AKP zu erneuern. Die Bürgermeister in Istanbul und Ankara tauschte er aus, die Hälfte der AKP-Abgeordneten im Parlament muss neuen Kandidaten weichen. Noch verfangen auch die Verschwörungstheorien, die Erdoğans Minister über "Operationen des Auslands" gegen die Lira verbreiten. Doch Erdoğan weiß: Am Ende wird die Wirtschaftslage über seine Zukunft entscheiden.

Parlamentsmehrheit wackelt

Die bisher veröffentlichten Umfragen sagen allesamt einen Sieg Erdoğans in einer Stichwahl um das Präsidentenamt voraus. Nur ob ihm İnce gegenüberstehen wird oder Akşener, scheint offen. Bei den gleichzeitigen Wahlen für ein neues, auf 600 Sitze vergrößertes Parlament ist die Lage unübersichtlicher. Zwei Wahlbündnisse treten dieses Mal gegeneinander an. Das Republikbündnis von AKP und der rechtsnationalistischen MHP; und das Volksbündnis, eine Allianz von vier politisch verschiedenen Parteien, deren einziges Ziel – wie Erdoğan richtig feststellte – ist, ihn zu Fall zu bringen. Die Sozialdemokraten der CHP haben sich hier mit den Rechtsnationalen der Guten Partei (Iyi Partisi), einer Abspaltung der MHP, verbündet, mit einer kleinen Islamisten- und einer weiteren Rechtspartei.

Die Wahlbündnisse haben den Vorteil, dass kleine Parteien nicht mehr fürchten müssen, an der hohen Zehnprozenthürde für den Einzug ins Parlament zu scheitern. Erdoğan wollte damit das Überleben seines Bündnispartners sichern und auch mehr nationale Wähler an sich ziehen. Das könnte sich nun ins Gegenteil verkehren. Umfragen sagen sowohl einen Sieg des Erdoğan-Lagers wie der Opposition voraus. Entscheidend wird sein, ob der prokurdischen HDP erneut der Sprung ins Parlament gelingt. Ist dies der Fall, könnte das Bündnis von AKP und MHP unter 300 Sitze fallen. Dann ist die absolute Mehrheit weg.

Neue Konkurrenz zwischen Präsident und Parlament

Erdoğan wird zwar als wiedergewählter Präsident weiterregieren können. Die neue Verfassung ist auf seine Person zugeschnitten, das Parlament dagegen in den Befugnissen sehr beschränkt. Doch die Türkei würde mit der Rivalität zwischen Präsident und Parlament noch mehr unwägbares politisches Neuland betreten.

So groß schätzt Erdoğan offenbar das Risiko einer Niederlage bei der Parlamentswahl ein, dass er politische Schwergewichte der Regierung als Kandidaten ins Rennen schickt – allen voran seinen Schwiegersohn und Energieminister Berat Albayrak und Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu. Als Parlamentarier dürfen sie laut neuer Verfassung nicht mehr Minister werden. Nach der Wahl mag es anders sein. (Markus Bernath, 23.5.2018)