Eine Vorlesung als langanhaltender Donner: Christian Kracht.

Foto: APA / Steffen Schmidt

Wien – Seit Christian Kracht (51) vor 23 Jahren seinen immer noch lesenswerten Roman Faserland vorlegte, in dem er einen zugedröhnten, gutbetuchten Juniorästheten durch das Deutschland der Schönen und Leeren taumeln lässt, wird mehr über die Person des 1966 geborenen Autors geredet als über seine Literatur.

Den einen gilt der Schweizer Schriftsteller als kaum ernstzunehmender Popliterat und schnöseliger Dandy mit zu viel Geld. Andere, vor allem jene, die Krachts Buch Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008), Lenin zettelt darin die Revolution schon im Schweizer Exil an, und vor allem seinen Kolonialismus-Roman Imperium (2012) gelesen haben, sehen in ihm einen Edelrassisten oder, wie Georg Diez im Spiegel, einen "Türsteher der rechten Gedanken".

Kracht, der in seinen Romanen recht harten Stoff auftischt, bezog zu derlei Anwürfen nicht Stellung. Anders als Michel Houellebecq, mit dem er trotz aller stilistischen Unterschiede Themen wie (wirtschaftlicher) Totalitarismus, fehlgeleitete Utopie und Simulation einer alternativen Wirklichkeit teilt, wobei der Schweizer historische Themen bevorzugt, unternahm er erst gar nicht den Versuch, sein Werk zu erklären.

Macht und Missbrauch

Kracht, der schwer zu fassen ist und in seine Bücher zahlreiche Anspielungen auf andere Autoren einbaut, hielt dieser Tage die Frankfurter Poetikvorlesung, in der renommierte Autoren über die Hintergründe ihres Schreibens reflektieren. Die Erwartungen waren groß, Kracht enttäuschte sie nicht. Dass aber ausgerechnet dieser Autor die #MeToo-Debatte über die Kirchenhintertür in den Diskursraum bringen würde, hatte niemand erwartet.

Gleich in der ersten von drei Vorlesungen schilderte der Sohn des ehemaligen Generalbevollmächtigten des Springer-Verlags nämlich, wie er im kanadischen Internat, in das man ihn gesteckt hatte, als Zwölfjähriger durch den Pastor Keith Gleed Demütigungen, Macht- und auch sexuellen Missbrauch erlebt hatte. Zum Beispiel musste er sich nackt auf das Sofa von Gleed legen, der ihn mit einem Gürtel schlug, während dieser sich selbst befriedigte.

Die in der Schweiz telefonisch alarmierten Eltern wollten dem Sprössling dann nicht so recht glauben, schließlich hatte das Kind schon immer eine ausgeprägte Fantasie gehabt. Lange Jahre, Jahrzehnte, so Kracht, habe er daher geglaubt, er habe sich diese traumatischen Szenarien nur eingebildet. Erst ein Bericht in einem Magazin, in dem sich 30 Männer outeten, denen Gleiches geschehen war, habe es ihm ermöglicht, sich seiner eigenen Erinnerungen zu versichern.

Humus für seine Figuren

"Der Akt des Schreibens selbst, die Gewalt, die Erniedrigung, die Grausamkeit (...) und die fetischisierte, oft verlagerte männliche Sexualität sind Topoi meiner Arbeit, deren ich mir erst bewusst werde, die aber sozusagen mit der ersten Zeile von 'Faserland' alles bestimmt haben", so Kracht.

Aus diesem Humus seien die unbarmherzigsten seiner Figuren erwachsen, die ihm den Vorwurf eingebracht hätten, ein Faschist zu sein. Kracht wäre allerdings nicht Kracht, wenn er die Ur- und Abgründe seines Schreibens ausgehend von dieser verdrängten Erinnerung in seiner Vorlesung nicht als Spiel inszenieren würde, allerdings als bitterernstes. Es geht dabei nicht um Eindeutigkeit, sondern um ästhetische Komplexität – und um die Erinnerung an das Verlorene, dessen Wiedergewinnung durch Poesie neben der Erkenntnis, das bin ja – auch – ich, schon immer eines der Felder guter Literatur war.

Kracht zitierte dazu Walter Benjamin, dessen Habilitationsschrift von der Uni, an der Kracht seine Vorlesung hielt, einst abgelehnt worden war: "In den Gebieten", heißt es im Passagenwerk, "mit denen wir es zu tun haben, gibt es Erkenntnis nur blitzhaft. Ein Text ist der lang anhaltende Donner."

Das Bild Krachts ist nach seiner Vorlesung nicht mehr dasselbe. Es ist weniger diffus, bleibt aber komplex. Dies wohl ganz im Sinne des Autors, der in seiner letzten Vorlesung Dienstagabend noch einmal den Bogen zu jener traumatischen Internatsszene und der Rezeption seiner Bücher schlug. (Stefan Gmünder, 23.5.2018)