Jacob Burckhardt: Geschichte lässt sich auch als Pathologie der Menschheit begreifen.


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Jeder kennt seinen Warnruf vor den "schrecklichen Vereinfachern", den eigentlichen Wegbereitern der Barbarei. Keiner aber hat zu Jacob Burckhardts Lebzeiten vorausahnen können, dass dieses aus dem Schallraum seines "ewig verdammenswerten" 19. Jahrhunderts herübertönende Mahnwort zur Signatur des Schreckens des darauf folgenden Zeitalters werden würde. War Burckhardt, der vorsichtige Basler Humanist, wirkungsmächtige Kunst- und Kulturhistoriker, weitblickende Epochenkritiker, "unser größter Lehrer" (Nietzsche), ein Prophet?

Den Eifer eines Zukunftsehers nährt der Wille zur Macht. Der zeitlebens konservative Patrizier Burckhardt aber, helvetischer Eigenbrötler mit ausgeprägt antimodernistischer Grundhaltung, war getrieben vom Misstrauen gegenüber der Macht, insbesondere gegenüber den Ausprägungen moderner Macht: jener des Geldes, der (verführungswilligen) Masse, des (verführungsbereiten) Cäsarismus.

Ideologiegeschichtliche Perspektive

Als Erforscher und anschaulicher Schilderer vor allem von Übergangszeiten kannte er die inneren Wirkungsmechanismen zwischen Massenbewegungen und Alleinherrschaft. Bereits in seinem Erstlingswerk Die Zeit Constantins des Großen (1852), besonders aber in den nachgelassenen Aufsätzen zur "Historischen Größe" und zur Geschichte der Französischen Revolution scheint seine gleichsam ideologiegeschichtliche Perspektive wie in eine unabweisliche Vorausschau verlängert – die Zeitgenossen Mussolinis, Hitlers und Stalins müssen, sofern sie es wollten, Jacob Burckhardt mit heißen Ohren gelesen haben.

"Das Ziel aller Forschung scheint wesentlich verändert, die politische Geschichte wird neben der Geschichte der großen Fluida zurücktreten", resümierte der am 25. Mai 1818 geborene Autor so maßstabsetzender wie lebensnaher Geschichtspanoramen wie der Griechischen Kulturgeschichte (posthum 1898 bis 1902) und der Cultur der Renaissance in Italien (1860) ein Jahr vor seinem Tod 1897 in einem seiner zahlreichen Briefe. Er beschrieb damit nichts anderes als den eigenen Erkenntnisanspruch, den Fluss der "historischen Weltbewegung" zu verfolgen und vor allem an seinen Stromschnellen am anschaulichsten darzustellen.

Wer solches hervorhebt, hat genaue Vorstellungen vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, und Nietzsche hat seine so benannte Streitschrift unmittelbar unter dem Eindruck von Burckhardts Basler Vorlesungen, etwa über Historische Größe oder Die geschichtlichen Krisen, verfasst. Beide, Lehrer wie Schüler, waren geprägt durch Schopenhauers Philosophie – nur dass Nietzsche daraus die optimistische Nutzanwendung der Weltbewältigung durch Willensmacht zu ziehen suchte, Burckhardt hingegen, satt von Fortschrittsskepsis und Misstrauen gegenüber jeglicher "Volksherrschaft", sich auf eine pessimistisch verdüsterte Einsicht in die menschliche Triebstruktur zurückgezogen hatte. Sie bestimmte auch sein Griechenbild: Helden durch Standhaftigkeit gegenüber dem Leid, das von Göttern und Menschen herrührt, keine Glückskinder im Frühlicht der Geschichte. Burckhardt korrigierte die idealisierte Griechenvorstellung der deutschen Klassik. Fortan gab es kein "Goldenes Zeitalter" mehr.

Entzauberer von Geschichtsmythen

Burckhardt – ein Entzauberer von Geschichtsmythen? Ja, sofern sie für nationalstaatliche, globalökonomische oder sonstige ideologische Veränderungs- oder Stabilisierungszwecke nutzbar gemacht werden. Vor dem "kecken Antizipieren des göttlichen Weltplans" warnte er, fern aller Frömmigkeit. Anderseits war ihm klar, dass – wie es der Geschichtsphilosoph Isaiah Berlin formulierte – Geschichte das ist, "was die Historiker tun". Also setzte er der politischen Geschichtsschreibung sein ästhetisches Bild der Historie entgegen, "erfand" er gleichsam seine Methode einer Kulturgeschichte, die das geschichtsbetrachtende Subjet in die Darstellung einbezieht: "Wir möchten gern die Welle kennen, auf welcher wir im Ozean treiben, allein wir sind diese Welle selbst."

In unermüdlichem Lokalaugenschein, dokumentiert in seiner Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens, dem Reisebuch Der Cicerone (1855), schuf er die Grundlagen nicht nur für seine prachtvolle Darstellung der Schubzeit zwischen Mittelalter und Renaissance (der Geburt des Menschen als selbstverantwortliches geistiges Individuum), sondern auch für seine morphologische Betrachtung der Konstanten des Geschichtsflusses: "Unser Ausgangspunkt ist der vom einzigen bleibenden und für uns möglichen Zentrum, vom duldenden, strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird; daher unsere Betrachtung gewissermaßen pathologisch sein wird."

Geschichte als Pathologie der Menschheit – unzeitgemäßer konnte man noch vor einem Vierteljahrhundert für die damaligen Fortschrittsoptimisten gar nicht sein. Uns heute indes erreicht Burckhardts Denkweise, trotz mancher Irrtümer, wieder unverändert fesselnd: Weil es der menschlichen Grunderfahrung entspricht, dass Erkenntnisse, die aus Krisen gewonnen wurden, zu den haltbarsten zählen. (Oliver vom Hove, 25.5.2018)