Hielt eine Rede nach einer Gedichtzeile von Anton Wildgans: Sabine Scholl.

Foto: Heribert CORN

Kürzlich las ich in der Zeitung den offenen Brief einer jungen Frau an die Immobilienfirma, welche das in einer lukrativen Gegend gelegene Seniorenheim und damit ihre 93jährige Großmutter entmietet hatte. Sie fragte die Verantwortlichen: Haben Sie nicht auch betagte Eltern oder Großeltern in ihren Familien? Würden Sie von denen verlangen, in hohem Alter in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen?

Ein paar Tage darauf erzählte mir ein Freund, dass er nun in einem Atelierhaus die Skulpturen eines Künstlers zerstören helfe, welcher nach 25 Jahren seine Arbeitsräume aufgeben muss, um für den Umbau des Fabrikgebäudes in Lofts Platz zu machen.

Daran musste ich denken, als mir auf der Suche nach Informationen zu Anton Wildgans das Gedicht "Ein Haus wird demoliert" auffiel, weil ich glaube, dass an Begriffen wie Haus und Wohnen gesellschaftliche Veränderungen deutlich werden.

Als literarisches Motiv spielte das Haus immer eine wichtige Rolle. Lange Zeit stand es für den festen Sitz einer Familie, war Schauplatz des Lebens und Ablebens mehrerer Generationen, verkörperte eine als angestammt gedachte kulturelle Ordnung. Dieses Denken hat sich spätestens mit der Herausbildung neuer Wohnformen für die wachsenden Großstädte überlebt. Mittlerweile steht außer Zweifel, dass Wohnen nicht gleich Wohnen ist, Haus nicht einfach Haus, und Besitz nicht gleich Besitz, sondern dass stets verschiedene Formen des Wohnens nebeneinander bestanden und bestehen. Nur blieb das Gestalten von Häusern und das Sprechen über Räume ziemlich lange auf eine gebildete, eher vermögende Gesellschaftsschicht und im weiteren Sinne, auf die westliche Kultur beschränkt. Von daher stammen die früher als alleingültig gehandelten Metaphern und Analogien von Mensch und Haus, wie sie zum Beispiel der Philosoph Gaston Bachelard in seiner Poetik des Raumes noch vor sechzig Jahren beschrieb, und dabei eine großbürgerliche Villa als Denkvorlage nahm. Inzwischen ist der Keller nicht mehr nur der einzige Speicher von Verborgenem und Verdrängtem, der Dachboden nicht mehr nur der einzige Raum, in dem sich das Gedächtnis vergangener Jahrzehnte sammelt.

Und das erste Wohnen eines Lebens prägt seinen späteren Verlauf. Es sind fast körperliche Erinnerungen, die sich mit diesen Räumen verbinden, und ob man in einer engen Mietwohnung oder einem geräumigen Haus mit mehreren Stockwerken aufwächst, ob im dunklen Erdgeschoss oder im Schloss oder in einem Versteck oder in aufeinandergestapelten Wohncontainern, macht einen Unterschied.

Ich selbst komme weder aus einer bürgerlichen Tradition noch aus der Stadt. Mein Großvater hatte während des Zweiten Weltkriegs für seine vielköpfige Familie einen alten Bauernhof erworben. Es war kein Stammsitz eines Großbauern, sondern vorerst Mühle, später Gasthof, danach Armenhaus gewesen. Somit lange schon ein Ort, an dem sich Menschen bloß zeitweise aufhielten. Die eine Hälfte wurde nach dem Kauf an Bedürftige vermietet, und damit eine unsichtbare Grenze mitten durchs Haus gezogen, zwischen "uns" und "denen": Eine ledige Mutter, vom Krieg Vertriebene, kinderreiche Familien von Gelegenheitsarbeitern, die Alkohol tranken und rauchten, das Paar mit geistig zurückgebliebenen Söhnen, die sich nacheinander auf die Gleise des hinterm Haus durchbrausenden Zuges legten und totfahren ließen. Später kamen dazu Gastarbeiter. Wir, als Mitglieder der großväterlichen Familie, sollten uns von den Armen und Ausgemusterten fernhalten. Doch überschritten wir Kinder die Linie oft und heimlich. Das lenkte bereits früh meine Aufmerksamkeit auf die Anderen, die nicht dazu Passenden, das Fremde und die Macht von Normen. Das formte mein Leben und mein Schreiben.

Wildgans beschreibt in seinem Hausgedicht die Zeitenwende von der beschaulichen Bürgerlichkeit zur Verwertung von Grundstücken für Industriebauten und Massenunterbringung, was er bedauert. Tatsächlich spricht er in einem Text von "Zinskasernen", in denen der Mensch "neben-, unter- und übereinander gepfercht und von der Erde weggeschachtelt wie in Käfigen" sei. Stets imaginiert er eine bessere Vergangenheit. Und vielleicht bringt den Schreibenden ja die Angst vor Veränderung dazu, das Gewesene in immer wieder anderen Versionen zu erinnern und neu hervorzubringen? Vielleicht lässt sich das Nicht-Loslassen-Wollen aus der Trauer über den Verlust eines kontinuierlichen Lebens erklären?

Schmerz findet sich auch in Texten von Autoren, die vor Krieg fliehen mussten. In Beschreibungen von psychischen Auswirkungen und Alpträumen taucht häufig das Symbol des Hauses auf. Doppelte Böden, Gebäude, die halb in der Luft hängen, abzustürzen drohen, Fallgruben, ungekannte Türen und Gänge, die sich plötzlich öffnen. Solche Gedichte verweisen auf die Brüchigkeit der eigenen Lebenserzählung, die durch den Krieg abgerissen ist und in der Unsicherheit des Exils noch keinen festen Grund finden konnte. Die Metapher des Hauses steht hier sowohl für die Gebäude, in denen die Menschen früher wohnten, als auch für ihr Zuhause im Allgemeinen.

Ein Poem der Syrerin WIDAD NABI trägt die Widmung "Für unsere Häuser, die wir verließen bei jeder Zerstörung und Bombardierung". Nabi erzählt, wie sie im Traum weiterhin dieses verlassene Haus besucht, das in Wirklichkeit längst zerbombt ist. Weiterhin erwacht sie nachts vom Tropfen des Wasserhahns in ihrer alten Küche. Die Orte des Vergangenen und Verlorenen verschlingen sich mit Wahrnehmungsbildern des Gegenwärtigen. Sie lebe, wie Nabi schreibt, in einer "Zwangsgeographie", die zwei Städte miteinander kurzschließe: "In einer hast du deine Kleider auf der Wäscheleine gelassen,/in der zweiten streckst du deine Hand in die Luft,/ um deine Kleider von der Terrasse in der ersten zu nehmen." Dieser Schwebezustand ist weit vom Schmerz über eine Zeitenwende entfernt, weil er ganz konkret mit Tod und der Zerstörung großflächiger Lebensräume verbunden ist.

Wer ist also dieser "irgendjemand", der den Grund erworben hat, wie es in meiner Titelzeile heißt, die ich dem Gedicht von Wildgans über das demolierte Haus entnommen habe?

Im Fall der syrischen Geflüchteten ist es der Diktator, der kürzlich angekündigt hat, ihren Grundbesitz zu verstaatlichen, damit sie nur ja nicht wiederkommen, falls der Krieg zu seinen Gunsten ausgeht.

Im Fall der 93jährigen Pensionistin ist es die Investmentfirma D.C. Values. Dieser Name bezeichnet treffend, worum es im städtischen Wohnen zunehmend geht: Für Investoren zählen Werte, welche sich in möglichst viel Profit übersetzen lassen. Unbeachtet bleiben jedoch die WertVORSTELLUNGEN, so kann man Values nämlich auch übersetzen, die ein gerechtes Zusammenleben garantieren. In diesem Fall wurde die letzte Spur von Angestammtheit zugunsten der Anonymität und Fluidität von Kapital aufgegeben.

Der Künstler, dessen Werk zerschlagen werden muss, da es zu viel Raum einnimmt, wird wohl die Stadt verlassen oder aufhören, voluminöse Skulpturen zu bauen.

Nur wer heutzutage von seiner Familie Grundbesitz übernehmen konnte, hat die Freiheit zu wohnen, wie er wünscht. Die anderen können ihre Orte nicht wechseln, auch wenn sich Lebensumstände ändern, weil es keine bezahlbaren Mietwohnungen mehr gibt. Paare können sich nicht mehr trennen, erwachsene Kinder nicht selbständig machen und müssen bei den Eltern wohnen bleiben. Wohngemeinschaften, die auf Zweck und nicht auf Wahl aufgebaut sind, vermehren sich. Zwar werden in den Großstädten neue Wohnhäuser errichtet, doch oft dienen sie vor allem zur Erhöhung des Profits. Und oft entsprechen sie nicht mehr den Bedürfnissen vielfältiger Lebensformen, die sich neben dem Idealbild Kleinfamilie mittlerweile entwickelt haben. Nähern wir uns also einer zweigeteilten Gesellschaft, in der den einen, leerstehende Wohnungen als Showrooms ihrer ökonomischen Erfolge dienen, und die anderen sich zu sozialistisch anmutenden Not- und Zweckgemeinschaften zusammenschließen? Wer weiß, was aus diesen gegensätzlichen Lebensbedingungen noch alles entstehen wird. Jedenfalls wird so nicht nur das Haus, sondern ein gerechtes Miteinander demoliert. (Sabine Scholl, 25.5.2018)