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Am 14. Juni 2017 brach das verheerende Feuer im 24-stöckigen Grenfell Tower aus. Dabei wirkte die Fassade wie ein Brandbeschleuniger, 72 Menschen starben.

Foto: AP Photo/Matt Dunham, file

Kamru Miah stammte aus Bangladesch, kam als 28-Jähriger nach London und arbeitete als Tandoori-Koch. Seinen vier Kindern kaufte er "mehr Eis, als wir essen konnten", wie sich sein Sohn Mohammed Hakim erinnert. Im Alter litt seine Gesundheit, nach Schlaganfällen und einem Herzinfarkt war der 79-Jährige kaum noch mobil. "Er hätte nicht im 17. Stock leben sollen. Wir beschwerten uns immer wieder", berichtet Hakim. Nichts geschah.

In der Nacht zum 14. Juni brach 13 Stockwerke tiefer ein Feuer aus in Miahs Wohnblock, dem Londoner Grenfell Tower. Weil eine erst kurz zuvor angebrachte Verkleidung aus Polyäthylen und Aluminium als Brandbeschleuniger agierte, konnte aus dem vergleichsweise unbedeutenden Brand eines Kühlschranks ein Inferno werden, das rasend schnell das gesamte Gebäude in Flammen hüllte.

"Bis zuletzt beisammen"

Mit Miah starben seine Frau Rabeya Begum und die längst erwachsenen gemeinsamen Kinder Hamid (28), Hanif (26) und Husna (22). Offenbar hatte das Trio die betagten Eltern nicht zurücklassen wollen. "Ich bin sehr stolz, dass meine Familie bis zuletzt beisammen bleiben wollte", sagte der einzige Hinterbliebene, Hakim, am Ende seiner Gedenkansprache.

Ehe die unabhängige Untersuchungskommission, die den Ursachen für die schlimmste Brandkatastrophe Großbritanniens seit Jahrzehnten nachgehen soll, ihre eigentlichen Anhörungen aufnimmt, haben der Vorsitzende Richter Martin Moore-Bick und sein Team den Aussagen für die 72 Getöteten zwei Wochen eingeräumt. Damit soll der Opfer würdig gedacht werden. Der demonstrativen Geste liegt eine Lehre aus früheren Untersuchungen zugrunde. So wurden die Opfer der Katastrophe von Hillsborough, bei der 1989 96 Fans des FC Liverpool ums Leben kamen, zunächst als "Leiche 52" und "Leiche 86" bezeichnet und dadurch entmenschlicht.

Vorwürfe gegen Regierung

So schwer es vielen spürbar fällt, die meisten Angehörigen nehmen die Chance wahr, über ihre Toten zu sprechen. Immer wieder haben der pensionierte Richter am Appellationsgericht Moore-Bick (71) die Anwältinnen und Zuhörer Tränen in den Augen.

Die Aussagen bringen neue Details ans Licht, zusammen mit Vorwürfen gegen die Bezirksregierung und Feuerwehreinsatzleitung. "Wären wir sofort hinausgebracht worden, wären wir alle lebend davon gekommen", ist Flora Neda überzeugt. Stattdessen galt: "Bleiben Sie in der Wohnung und warten Sie auf die Rettungskräfte."

Freilich fehlte der Londoner Feuerwehr eine Leiter, die hoch genug gewesen wäre, um von außen an das Gebäude zu kommen. In heroischem Einsatz retteten Feuerwehrleute mit schwerem Atemschutz 67 Bewohner. Neda gehörte nicht dazu: Die an Muskelschwund leidende 53-Jährige gelangte auf dem Rücken ihres Sohnes Farhad (25) ins Freie, verbrachte anschließend fünf Tage auf der Intensivstation und zwei Monate im Krankenhaus.

"Wir verlassen diese Welt"

Ihr Mann Saber (57) kümmerte sich so lange um Nachbarinnen, bis ihm der Rauch im Treppenhaus den Weg versperrte. Um dem Flammentod zu entgehen, sprang er aus dem 23. Stock, nicht ohne vorher seiner Familie noch auf Band zu sprechen: "Goodbye. Wir verlassen diese Welt. Hoffentlich habe ich euch nicht enttäuscht."

Die Enttäuschung der Hinterbliebenen und Anwohner über die Vernachlässigung der Sozialmieter bleibt nach der Katastrophe spürbar. Die Bezirksregierung von Kensington&Chelsea (K&C) hatte jahrelang alle Warnungen vor der Brandgefährdung des 24-stöckigen Wohnhauses für rund 400 Menschen ignoriert. K&C gehört neben dem Finanzzentrum City of London zum reichsten Bezirk der 8,5-Millionen-Metropole.

Der Norden von Kensington, aus dem die ausgebrannte Ruine des Grenfell Tower aufragt, gehörte zu den Slum-Ecken der Stadt; weiter südlich, rund um den Kensington-Palast, das Museenviertel oder die King's Road in Chelsea sind Wohnungspreise von zehn Millionen Pfund normal. Die damit verbundene Verdrängung der einheimischen Bevölkerung durch globale Spekulanten haben Zentral- und Bezirksregierungen jeglicher politischer Couleur jahrelang klaglos hingenommen.

Die Anhörungen gehen kommende Woche weiter. (Sebastian Borger aus London, 26.5.2018)