Wolfgang Kraushaar: Die Arbeit des Abrisses

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: Eventpress MP / dpa Picture Alliance / picturedesk.com

Nur wer "1968" selbst miterlebt hat, kann sich über das Jahr der Studentenrevolte authentisch äußern. Doch gibt das Ausmaß der Involvierung auch Anlass zur Sorge. Es scheint, als ob manche Empörer von damals heute deshalb ihre eigenen Interpreten wären, um allfälligen Neubewertungen vorzubeugen. Die Masse der Alt-68er hat der Marsch durch die Institutionen über die Schwelle des Rentenantritts geführt. Und doch liegt ein Bann über der "Aufarbeitung" von 1968. Wer wie Sozialwissenschafter Wolfgang Kraushaar nunmehr ein Reclam-Büchlein zum Thema herausgegeben hat (1968. 100 Seiten), der darf Autorität für seine Interpretation beanspruchen.

Kraushaar erlebte das ominöse Jahr als Politologiestudent in Frankfurt. Sein kurzer Abriss der Ereignisse ist umso müßiger, als sich 1968 – aufgefächert nach Gesichtspunkten wie "Sound der Revolte" oder "Die Revolte der Frauen" – als bemerkenswert ereignisarm zu erkennen gibt. Ein paar Kommunarden und Studenten dürften verbissen daran gearbeitet haben, keine anal orientierten Kleinbürger mit latenter Ich-Schwäche (" autoritärer Charakter") zu werden. Kraushaar macht deutlich, dass viele der charismatischsten Wortführer der 68er-Bewegung aus der Position des "Parias" agiert und gesprochen hätten. Die Idee geht auf Hannah Arendt zurück und meint genuin jüdisches Außenseitertum. Dennoch ist der Fokus von der Tat weggerutscht – und auf ihre Auslegung übergegangen.

***

Dietmar Dath: Warten auf ewig

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: ELSNER,ERWIN / Action Press / picturedesk.com

Der deutsche Romancier und FAZ-Journalist Dietmar Dath (48) verkörpert heute am nachdrücklichsten den ungerührt denkenden Linken in Zeiten des Neoliberalismus. Das Erbe der 1968er ist auf ein paar wenige Monopolträger übergegangen. Deren Geschäftsmodell beruht auf einer Wortmacht, die unweigerlich zur Übernahme der Deutungshoheit führt.

Zugleich wird den Konsumenten bürgerlicher Medien und Sender von vornherein signalisiert, diese hätten von linker Theorie heute nichts Umstürzendes mehr zu befürchten. Das Denken in der Tradition der (radikalen) Linken ist nicht nur das Geschäft derjenigen, die dazu befähigt sind. Es ist überhaupt Geschäft. Und so lässt sich der Medienmarkt mit jedem neuen Jubiläum von 1968 oder Karl Marx et cetera die Expertise von eigens befähigten Meinungsträgern frei Haus liefern. Dath schaffte es mit einem vorsichtig für Marx werbenden Geburtstagstext kürzlich sogar auf die Seite eins der bürgerlichen FAZ.

Die Revolution des Proletariats (mit ihr auch die der Studentenschaft) scheint nicht bloß vorübergehend, sondern für immer abgesagt. Dath wirbt in seinem Marx-Büchlein (Karl Marx. 100 Seiten) bei Reclam für dessen "kalte Wut". Gemeint ist die Geduld: Auf revolutionäre Gelegenheiten muss man eben warten können.

***

Jean Baudrillard: Die Agonie der Linken

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: Bruni Meya / akg-images / picturedesk.com

In Umkehrung des alten Marx-Zitats wäre es heute richtig zu sagen: "Die 68er haben die Welt nur verschieden verändert, es kommt drauf an sie zu interpretieren." Mit dem Pariser Medientheoretiker und Philosophen Jean Baudrillard (1929-2007) fand die Linke nur wenige Jahre nach ihrem Schlüsseljahr 1968 ihren gnadenlosesten Richter.

Baudrillard (den meisten als Erfinder einer allerdings anspruchsvollen Simulationstheorie geläufig) machte der französischen Linken ihr Versagen auf der Bühne der Politik massiv zum Vorwurf. Den Anspruch auf eine radikale Umwälzung aller Verhältnisse preisgebend, hätten sich Kommunisten und Sozialdemokraten gezwungen gesehen, für Differenzen zu werben, die sie von den Rechten unterschieden. Diese kleinen Abweichungen hätten – mit Blick auf die zunehmende Gleichgültigkeit der Massen – dennoch keinen Unterschied mehr gemacht.

Mit der Polemik Baudrillards gegen die "Göttliche Linke" wurde, an der Schwelle von den 1970ern zu den 1980ern, das Erbe von 1968 unwiderruflich zu Grabe getragen. François Mitterrand wurde als Sozialist französischer Präsident. Doch die Linke bezahlte ihr Rendezvous mit dem Realitätsprinzip teuer. Der Abbau utopischer Überschüsse mündet bis heute, 50 Jahre nach dem famosen Wonnemonat Mai 1968, in die brave Erfüllung von Chronistenpflichten. Zu ihnen gehört die Versicherung aller Beteiligten, dass damals alles gut gegangen, weil nicht viel geschehen war. (Ronald Pohl, 26.5.2018)