Claire (Maria Happel) staunt über die Fitness der Güllener Exekutive (Daniel Jesch).

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Die womöglich berühmteste Nachfahrin der antiken Medea heißt Zachanassian. Sie stammt, als prominentes Geschöpf des Dramatikers Friedrich Dürrenmatt, aus dem ursprünglich Schweizer Nest Güllen. Eines gar nicht so schönen Tages steht "Claire" (eigentlich Klara) am Bahnhof ihres von akuter Armut geplagten Heimatortes.

Sie verspricht den moralisch durchschnittlich verkommenen Kleinstädtern eine Anschubfinanzierung im Ausmaß von einer Milliarde. Die Bedingung: Man möge ihren Entjungferer und Schwängerer, den Krämer Ill, ihr zu Ehren massakrieren.

Zu Tode gekränkte Schlange

Im Wiener Burgtheater, wo man Der Besuch der alten Dame mit großem Behagen vom stark vergilbten Blatt spielt, versprüht Claire (Maria Happel) das Gift einer zu Tode gekränkten Salonschlange. Im schwarzen Schlauchkleid, unter Bedeckung eines gewagten Zylinderhutes, nimmt sie die Ovationen der Dörfler mit huldvoller Routine entgegen. Das karottenrote Kunsthaar betont das eher künstlerische, von plötzlichen Eingebungen gelenkte Temperament dieser "reichsten Frau der Welt".

Und doch haben sich die Vorzeichen für diese Racheveranstaltung – Baujahr 1955 – bedeutsam verändert. Unsere Demokratie sieht sich dem Ansturm von Populisten und allerlei Wutbürgern ausgesetzt. Das globale Wirtschaften hingegen kann auf segensreiche Monopolgestalten wie die "alte Dame" getrost verzichten. Was ja nur heißt: Der hohe Abstraktionsgrad der globalen Ökonomie feit ihre Opfer und Verlierer heute nicht vor bitterster konkreter Not.

Rückwärts laufende Uhr

Genau diese Einsicht bestimmt Frank Hoffmanns kreuzbrave, in Zusammenarbeit mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen entstandene Produktion. Der Vollmond über Güllen ist eine gemächlich rückwärts laufende Bahnhofsuhr (Bühne: Ben Willikens). Die Rotte der Almosenempfänger ist übersichtlich klein und bis zur Adjustierung des sportiven Dorfgendarmen (Daniel Jesch) von gepflegt österreichischem Kolorit. Irgendwann wird sogar die Bahnroute mit "Gloggnitz, Payerbach, Bruck an der Mur" in das schöne Umland der Rax verlegt.

Alfred Ill (Burghart Klaußner) gleicht einem schartig gewordenen Stenz, der nur allmählich, mit der Tatsache seines baldigen Sühnetodes konfrontiert, aus allen Wolken fällt. Die Masse dieser Globalisierungsverlierer feixt durch Industriefenster und besitzt, in Gestalt ihres Bürgermeisters (Roland Koch), die unglücklichste Verkörperung des Weltgeistes, die sich denken lässt.

Tugendschwätzer mit Halbglatze

Denn diesem beherzten Stadtoberen mit der schmucken Halbglatze eignet der unselige Drang, zu allen unpassenden Gelegenheiten salbungsvolle Tiraden zu schwingen. Koch stellt sich auf einen Viktualiensack, um Claire Zachanassian zu begrüßen. Leider Gottes macht der Lärm durchfahrender Schnellzüge sein Redneramt im Nu zunichte.

Gelingt es ihm dennoch, das (letzte) Rednerwort zu behalten, so flüchtet Koch in eine furchterregende Suada voller Stolperfallen und rhetorischer Sackgassen. Nicht nur die Zachanassian findet aus dem Staunen nicht mehr heraus. Für Ill, seinen Amtsnachfolger in spe, hat dieser Honoratior mit der hässlichen Schärpe gute Ratschläge – und eine Schusswaffe für einen möglichst umweltschonenden Suizid parat. Eine meisterliche, zugleich erschreckende Karikatur der Not öffentlicher Repräsentation.

Ansonsten wird das Dürrenmatt-Stück – eine "tragische Komödie" – mit gebremstem Ernst und stark verknappt erzählt. Der Suff zerrüttet das Gemeinwesen, während Ill mit dem Ernst eines attischen Bürgers sehenden Auges in die Katastrophe schlittert.

Claire aber bildet die schöne, reife Verkörperung der Nemesis; eine Prothesengottheit, die auf einem Strohballen hockend den Freuden ihrer Jugend nachsinnt und mit ihrem Gefolge aus Eunuchen und wechselnden Ehekrüppeln (Rolf Mautz) dem süßen Nichtstun frönt: Das Geld heckt ja auch aus freien Stücken immer mehr von sich selbst aus. Die Zachanassian lauscht im Negligé wie eine Amazone in Ruhe dem Gitarrengezupfe (Hans-Dieter Knebel) ihres Butlers nach und lässt doch das tödlich beleidigte Mädchen durchklingen.

Besuch im Museum

Und so schreitet Ill unendlich gefasst, mit leuchtender Zigarettenspitze, in den von der Weltwirtschaft über ihn verhängten Untergang. Ein riesiger Industriehaken fällt scheppernd zur Erde, und die Dorfgemeinschaft verheddert sich bei der Verkündigung des Todesurteils im Mikrofonkabel. Ein liebenswürdiger, freundlich beklatschter Besuch im Theatermuseum, der sanft schaudern macht. Aber dergleichen ist ja manchmal pädagogisch heilsam. (Ronald Pohl, 28.5.2018)