Paris – Auch die verwegensten Helden sind bisweilen schüchtern. Mamoudou Gassama wagte sich am Montagmorgen gegenüber Emmanuel Macron nur auf eine Kante des goldbestickten Stuhls zu setzen. In Lochjeans und kurzärmligem Hemd gab er dem Staatspräsidenten im Elysée-Palast Auskunft, wie er zuvor eine ganze Hausfassade hochgeklettert war. Er habe "an nichts gedacht"; "je höher ich stieg, desto mehr Mut bekam ich". Gezittert habe er erst nachher, als er den vierjährigen Buben auf dem Balkon in Sicherheit gebracht hatte, erzählte er Macron, der nur einen Kommentar hatte: "Bravo!"

"Ganz normaler Mensch" wird zum Helden

Vorher, an jenem Samstagabend, war der Held noch ein ganz normaler Mensch gewesen. Bei der Porte de La Chapelle, einem kosmopolitischen Nordviertel von Paris, war er gerade mit einer Freundin unterwegs, um sich das Fußballfinale der Champions League anschauen zu gehen. Mit einem Mal hörte er Rufe und sah eine Ansammlung von Menschen, die alle voller Angst und Verzweiflung ein Wohngebäude hochblickten – wo ein Kleinkind an einer Balkonaußenwand hing, unter sich gähnende Leere.

Präsident Emmanuel Macron und der 22-jährige Mamoudou Gassama, der durch seinen beeindruckenden Einsatz das Leben eines kleinen Buben rettete, im Elysée-Palast. Er war vor einigen Monaten aus Mali eingewandert.
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Kräftige Klimmzüge, ruhig und resolut

Alle schrien durcheinander oder riefen die Polizei, ein paar Leute stellten sich direkt unter den Buben, um seinen Fall möglichst zu dämpfen, doch zwei Minuten lang wusste niemand weiter. Da rannte plötzlich ein junger Mann über die Straße. Er sprang behende die Schutzmauer des Gebäudes hoch, von dort auf den Balkon des ersten Stockwerks; dann angelte er sich mit kräftigen Klimmzügen zum zweiten Stock hoch, im Nu zum dritten und schließlich zum vierten – wo er den Buben ruhig, aber resolut an einem Arm packte und über die Balkonbrüstung in Sicherheit hievte.

Die Szene, die gerade eine halbe Minute dauerte, wurde natürlich gefilmt und ging bald millionenfach um die Welt. Der Retter blieb aber vorerst unbekannt. Er hatte der Polizei noch Auskunft gegeben, denn sie war mittlerweile in die leere Wohnung eingedrungen und hatte den Vater des kleinen Buben in Gewahrsam genommen; er hat mit einem Verfahren wegen elterlicher Nachlässigkeit zu rechnen, nachdem er "einkaufen gegangen" war, wie er sagte.

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Die Franzosen wollten aber nur wissen, wer der Lebensretter sei. Mehr als einen Tag später erfuhren sie endlich seine Identität: Der "Spider-Man", der sich ohne Sicherheitsnetz und Spezialeffekte eine Hauswand hochgeangelt hatte und den Medien dann aus dem Weg gegangen war ("Ich hatte noch nie mit einem Journalisten gesprochen"), heißt Mamoudou Gassama und lebt in einem heruntergekommenen Ausländerheim.

Endlich aufgespürt von den Medien, berichtete der 22-jährige Afrikaner am Sonntagabend, er habe es "wegen des Kindes" getan: "Ich mag Kinder sehr und dachte nicht an die Stockwerke oder die Gefahr. Es war der Bub, der mir den Mut gab." Zu seiner Muskelkraft meinte er banal: "Ich spiele Fußball, ich renne, gehe in den Fitnessclub."

Noch am Sonntagabend hagelte es offizielle Reaktionen. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo freute sich via Twitter über den "heroischen" Akt und teilte mit, Gassama habe ihr gesagt, dass er aus Mali stamme und davon träume, sich hier ein Leben aufzubauen.

Die Pariser Bürgermeisterin will Mamoudou Gassama dabei unterstützen, in Frankreich bleiben zu können. Sie gratulierte ihm via Twitter und schrieb, es sei ihr eine Freude gewesen, mit dem Retter telefoniert zu haben.

"Ich sagte ihm, dass seine heroische Tat ein Vorbild für alle Bürger ist und dass die Stadt Paris natürlich daran interessiert ist, ihn bei seinen Bemühungen zu unterstützen, sich in Frankreich niederzulassen."

Am Montagmorgen lud Macron den Helden von Paris dann umgehend in den Elysée-Palast ein. Er ließ sich von ihm den Tathergang erzählen und versprach eine schnelle Integration in die nationale Gemeinschaft – konkret die Einbürgerung und einen Posten bei der Feuerwehr.

Selbst Front National für Einbürgerung

In den Newssendungen herrschte der gleiche Tenor: Der junge Malier habe es mehr als verdient, die Staatsbürgerschaft zu erhalten. Sogar der fremdenfeindliche Front National (FN) räumte ein, es handle sich "unbestreitbar" um einen Akt der Bravour. Gefragt, ob er dafür sei, dass Gassama Identitätspapiere erhalte, meinte FN-Parteivize Nicolas Bay: "Wenn man ihn reguralisieren muss, um die Ausweisung der anderen illegal Zugereisten zu erhalten, dann bin ich dafür!"

In der Folge zeigte sich allerdings, dass Gassama gar nicht "papierlos" ist. Der Malier hatte zuvor drei Jahre in Italien gelebt und dort ein Schutzdokument erhalten, das ihm auch die Einreise nach Paris ermöglichte.

Eltern nicht zu Hause

Ersten Erkenntnissen zufolge waren die Eltern des Buben nicht zu Hause, als er vom Balkon zu fallen drohte. Der Vater wurde in Untersuchungshaft genommen, gegen ihn wird wegen Verletzung der Aufsichtspflicht ermittelt. Die Mutter war zu dem Zeitpunkt nicht in Paris.

Nach dem Treffen mit Präsident Macron zeigt Gassama seine Urkunde, die ihm vom Pariser Polizeichef Michel Delpuech für seinen Mut und Einsatz ausgestellt wurde.
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Gassama erhielt außerdem eine Urkunde für seinen Mut und Einsatz von der Pariser Polizei ausgestellt.

Gassama ist nicht der erste beherzte Held aus Mali, den Paris feiert: 2015 rettete Lassana Bathily aus einem Sahel-Dorf im Westen Malis mehreren Menschen das Leben. Der Muslim hatte sie während einer Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt, in dem er arbeitete, im Kühlraum versteckt. Auch ihm wurde zum Danke die Staatsbürgerschaft verliehen. (APA, Stefan Brändle, 28.5.2018)