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Auschwitz als Symbol für das absolut Böse. Das steht selbst bei jenen außer Frage, die sonst alles und jedes relativieren.

Foto: AP Photo/Matthias Schrader

November 1943. Sie sind Lokführer bei den Deutschen Reichsbahnen. Ursprünglich hieß es, die Juden würden "in die Ostgebiete umgesiedelt". Jetzt merken Sie, dass Sie fast jeden Tag in völlig überfüllten Viehwaggons Juden zu einem Ort in der Nähe von Krakau führen, über den es viele Gerüchte gibt. Manche behaupten, es würden die Juden "ins Gas gehen", andere halten das für ein Märchen, um Gräuelpropaganda, die dem 3. Reich schaden soll. Eines ist sicher: Wer "dumme Fragen" stellt, landet in Dachau oder in einem Strafbataillon an der Ostfront (wo die Überlebenschancen nach Stalingrad und Kursk relativ gering sind). Ihr Vorgesetzter hat Ihnen mitgeteilt, dass eine Versetzung "aus organisatorischen Gründen" nicht möglich sei und er wenig Verständnis für die "Gefühlsduselei ostmärkischer Schlappschwänze" habe. Ihre Frau meint, der Führer mache immer das Richtige und die Juden würden euch nichts angehen. Außerdem sollten Sie an die gemeinsamen fünf kleinen Kinder denken. Ihre Arbeitskollegen sehen das ähnlich. Wie entscheiden Sie sich, und wie begründen Sie Ihre Entscheidung?

Eindeutig dürften zwei Aspekte sein: Der Lokführer beteiligt sich an einem Verbrechen, und diese Beteiligung ist nicht nur in jedem Rechtsstaat strafbar, sie ist auch moralisch unbedingt abzulehnen. Zweitens gilt wohl der Satz, den ich während der Waldheim-Debatte in den 1980er-Jahren öfters gehört habe: "Wir wissen nicht, wie wir damals gehandelt hätten – aber wir wissen, wie wir hätten handeln sollen." Dieses "sollen" geht meiner Meinung nach immer mehr verloren.

Jede moralische Verurteilung des Holocaust setzt einen prinzipiellen Unterschied zwischen Recht und Unrecht, zwischen moralisch und unmoralisch, zwischen Gut und Böse voraus – Unterschiede, an die viele in Österreich lebende Menschen, allen voran die Jugend, offenbar nicht mehr glauben.

Symptomatisch dafür: Begriffe wie "gut", "moralisch" und vor allem "böse" werden fast immer unter Anführungszeichen gesetzt – es sei denn, die Rede ist vom Holocaust. Im Zusammenhang mit der Shoah gibt es – vor allem bei jenen, die sich um "politische Korrektheit" bemühen – noch so etwas wie "absolutes Unrecht" und die "unbedingte Achtung der Menschenrechte". Ansonsten triumphiert der Wertesubjektivismus. Typische Aussagen lauten: Moralisches Urteilen sei subjektiv und damit beliebig, jeder habe seine eigene Perspektive, alles hänge von der Situation und dem Kontext ab.

Wer diese Diagnose nicht teilt, unterhalte sich einmal mit Jugendlichen oder lege ihnen die Dilemmasituation am Beginn des Beitrages vor. Fast nie wird thematisiert, dass Wertesubjektivismus und normativer Relativismus mit einer apodiktischen moralischen Verurteilung des Holocaust kaum vereinbart werden können.

Warum ist dieser Wertesubjektivismus so verbreitet? Viele Faktoren spielen wahrscheinlich eine Rolle, beispielsweise die Enttäuschung über eine politische Kultur, in der moralische Prinzipien wie der Begriff der Menschenwürde häufig dazu benutzt werden, um gegen den politischen Gegner zu punkten. Diese Instrumentalisierung von Moral untergräbt genau jene Moral, die wir im Kampf gegen jede Form von Barbarei bitter nötig hätten.

Irrelevantes verbinden

Ein anderer Faktor ist ein fast schon internalisierter Relativismus in historischer oder psychologischer Hinsicht. Etwa: "Diese Leute damals waren eben überzeugt, das Richtige zu tun." Oder ein Pragmatismus, der argumentiert: "Wenn ich nicht mehr die Juden nach Auschwitz führen würde, dann eben ein anderer. Was bringt es, dass ich mich aufopfere?" Entscheidend ist wohl auch der Verlust des Urteilsvermögens, etwa der Hang, "ohne Reflexion völlig Irrelevantes" miteinander zu verbinden und ohne dabei über die eigenen Annahmen zu reflektieren (so der ehemalige Neonazi Christian Weißgerber in dem Interview "Der Respekt vor dem radikal Bösen faszinierte mich", der STANDARD, 11. Mai 2018).

"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren." Speziell Jugendlichen ist in einer Gesellschaft, die von Pragmatismus, Relativierungen und einer Kultur der Befindlichkeiten beherrscht wird, dieser Satz schwer zu vermitteln. Wo soll da noch Platz sein für Konzeptionen wie "unbedingt", "universell", "ohne Ausnahme" und "ohne Relativierungen"? Oder für eine moralische Bildung, die etwa zwischen dem moralisch Unerheblichen und jenem Bereich unterscheidet, der unbedingte und universelle Gültigkeit beanspruchen darf?

Sigmund Freud meinte, dass die Stimme des Intellekts leise sei, sich aber doch Gehör verschaffen könne. Er knüpfte daran sogar die Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Menschheit.

Stimme der Vernunft

Wenn die Stimme der Vernunft aber nur fallweise von Festtagsrednern wie dem Holocaust-Überlebenden Arik Brauer erhoben wird, ist das langfristig zu wenig. (Georg Cavallar, 29.5.2018)