Beim ersten Drittel eines Marathons schaut der Laufstil bei vielen noch weitaus dynamischer aus als beim Zieleinlauf, sagt der Experte.

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Sportwissenschafter Koller: "Wen es beim Zuschauen voll packt und wer ins Training einsteigen will, macht das innerhalb von zwei, höchstens drei Tagen."

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Einmal im Leben einen Marathon zu laufen – davon träumen viele Hobbysportler. Das Training dafür ist gesund, der Marathon selbst im besten Fall zumindest nicht gesundheitsschädigend, sagt der Sportwissenschafter Michael Koller. Ein großes Problem sieht er allerdings darin, dass viele Läufer auf das Krafttraining vergessen – das erhöht die Verletzungsgefahr.

STANDARD: Auf der Prater-Hauptallee ziehen viele Hobbyläufer ihre Runden: Was sind die häufigsten Fehler, die Sie da sehen?

Koller: Das häufigste Problem ist die muskuläre Ermüdung. Wenn man sich Wettkämpfe anschaut, dann sieht der Laufstil der meisten Hobbyläufer im letzten Drittel des Laufes ganz anders aus als im ersten Drittel, weil ihre Muskulatur stark ermüdet ist. Ihre Hüfte ist gekippt, der Rücken krumm, sie sitzen quasi beim Laufen und heben ihre Beine kaum noch. Durch die fehlende muskuläre Aktivierung werden die Gelenke zu stark beansprucht, und dadurch steigt auch das Verletzungsrisiko.

STANDARD: Warum ist das so?

Koller: Den meisten Läufern fehlt das Krafttraining. Viele gehen lieber eine Stunde länger laufen als 15 Minuten ins Fitnesscenter. Dabei muss erst die muskuläre Basis trainiert werden, bevor es um die korrekte Lauftechnik geht.

STANDARD: Was kann an der Lauftechnik falsch sein?

Koller: Viele Läufer steigen zu weit nach vorne und bremsen sich dadurch stark ab. Die Hüfte kippt bei vielen nach hinten. Es sollte einen deutlichen Unterschied zwischen Laufen und Gehen geben. Wenn man Läufer auf niedrigem Niveau anschaut, sieht das oft wie schnelles Gehen aus, weil es kaum Fersen- und Kniehub gibt. Der Schritt ist verhältnismäßig lang für das Tempo, die Schrittfrequenz niedrig.

STANDARD: Im Frühjahr laufen bei Großevents wie dem Wien-Marathon oder dem Frauenlauf viele Menschen mit. Inspiriert das auch Nichtläufer?

Koller: Wir bemerken nach solchen Events einen 48-Stunden-Effekt: Wen es beim Zuschauen voll packt und wer ins Training einsteigen will, macht das innerhalb von zwei, höchstens drei Tagen. Diejenigen, die ihr Vorhaben nicht innerhalb dieser Zeit umsetzen, sind dann wieder weg. Gerade jetzt, wo der Sommer kommt und es immer wärmer wird, kann ein Laufeinstieg auch sehr unangenehm sein. Übergangsjahreszeiten sind da besser.

STANDARD: Wie kann der Einstieg trotzdem klappen?

Koller: Ideal ist, wenn man von Anfang an weiß, wo die Stärken und Schwächen liegen, um das Training gezielt anzusetzen. Sonst trainiert man nach dem Motto: Ich renn einmal, es wird schon etwas weitergehen. Es kann schon sein, dass man sich durch das unspezifische Training entwickelt, es kann aber genauso gut sein, dass man stagniert oder ein zu großes Trainingspensum hat und in eine Überlastung schlittert. Dann sagen viele "Das Laufen ist nichts für mich" und hören wieder auf. Daher gibt es eine relativ hohe Drop-out-Rate.

STANDARD: Warum sind Überlastungen ein so großes Problem beim Laufen?

Koller: Das Herzkreislaufsystem und die Muskulatur entwickeln sich relativ schnell. In acht Wochen kann man tolle Trainingsentwicklungen sehen, aber der Bewegungsapparat – die Gelenksstrukturen und die Knorpelstrukturen zum Beispiel – brauchen zum Anpassen an die neue Belastung wesentlich länger. Das ist, als ob man in einen Fiat einen Ferrari-Motor einsetzt. Da ist es kein Wunder, wenn es die Karosserie zerlegt. Es macht daher zum Beispiel durchaus Sinn für Einsteiger, die Grundausdauer mit Low-Impact-Sportarten wie Radfahren oder Walken zu trainieren – und dann halt nur ein- bis zweimal in der Woche zu laufen.

STANDARD: Für viele ist der Marathon die Königsdisziplin, die es einmal im Leben zu schaffen gilt. Ist das ratsam?

Koller: Die eigentliche Königsdisziplin ist für mich der Zehn-Kilometer-Lauf, weil man dabei die anaerobe und aerobe Leistungsfähigkeit voll ausschöpfen muss und das Training dafür am komplexesten ist. Viele Läufer liebäugeln aber nach dem ersten Zehner schon mit einem Halbmarathon und dann mit einem Marathon. In unserer Gesellschaft gibt es momentan den Trend, die Distanz zu steigern, anstatt die Zielzeit zu verbessern. Dabei wäre es gescheiter, erst einmal über kürzere Distanzen schneller zu werden und an der Basisausdauer zu arbeiten, um dann einen schönen, schnellen Marathon zu laufen. Ich sage das auch oft zu Sportlern, die zu mir kommen. Die sagen mir dann aber knallhart ins Gesicht: "Ich möchte eh nur einen Marathon machen, und ob ich da vier oder sechs Stunden unterwegs bin, ist mir egal. Ich will ins Ziel kommen."

STANDARD: Einfach nur finishen, wie schwierig ist das?

Koller: Wenn das die Zielsetzung ist, dann ist das Training nicht einmal so komplex. Man trainiert sechs bis sieben Stunden in der Woche und macht das, je nach Trainingsstand, eineinhalb bis zwei Jahre. Dann rennt man einmal im Leben den New York Marathon, damit man das von der Liste streichen kann. Der Marathon symbolisiert in unseren Köpfen Leistung, Überwindung und Kampf. Prinzipiell kann aber jeder, der gesund ist, einen Marathon laufen.

STANDARD: Wie gesund ist das Marathonlaufen?

Koller: Das Marathontraining an sich kann man aus gesundheitlicher Sicht jedem empfehlen – es bedarf allerdings einer sehr hohen Belastungsverträglichkeit. Beim Training geht es nicht nur um das Laufen, sondern auch um Kraft- und Beweglichkeitstraining. Auch Sportarten wie Radfahren können integriert werden.

STANDARD: Und wie gesund ist der Marathon selbst?

Koller: Der Marathon selbst ist nicht gesundheitsfördernd, aber bei richtiger Vorbereitung auch nicht gesundheitsschädigend. Ich sage immer: Es ist ein Nullsummenspiel. Die körperlichen Werte sind direkt nach einem Marathon in der Tat katastrophal, egal wie gut ein Athlet trainiert ist. Aber eine Woche später hat er wieder ganz normale Werte. Ein trainierter Körper erholt sich sehr schnell wieder.

STANDARD: Wem raten Sie vom Laufen ab?

Koller: Menschen mit akuten Infekten oder akuten Herzinfarkten. Bei Beschwerden wie Knieabnützungen oder Arthrosen kann man vielleicht trotzdem laufen, wenn das schmerzfrei möglich ist. Da ein absolutes Laufverbot auszusprechen wäre falsch.

STANDARD: Was, wenn es auch uns Gesunden einmal beim Laufen wehtut?

Koller: Schmerzen sind immer ein Signal, dass etwas nicht passt – Belastung, Intensität, Umfang, Laufstil, körperliche Konstitution, Technik oder Equipment. Besonders trügerisch ist, dass die Schmerzen oft nicht schon beim Laufen kommen, sondern erst am nächsten Morgen da sind. Noch gefährlicher sind Schmerzen, die verschwinden, sobald man sich warmgelaufen hat und erst bei Ermüdung wieder auftreten. Da kann man in eine Überlastung reinlaufen, die sehr langwierig sein kann. (Franziska Zoidl, 31.5.2018)