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Die Polizei evakuierte das Zeltlager in der Nähe der Porte de la Villette.

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Dort lebten zuletzt bis zu 2.000 Asylsuchende.

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Paris – Es war einer dieser Momente, die die ganze Absurdität des europäischen Asylwesens offenbaren. Hunderte Bereitschaftspolizisten umzingelten am Mittwochmorgen das Lager "Millénaire" generalstabsmäßig, vom Wasser her sogar mit Schiffen anfahrend. Allein, die jungen Männer aus Somalia, dem Sudan und Eritrea warteten schon um sechs Uhr friedlich vor ihren Zelten, vor sich Bündel mit ihren wenigen Habseligkeiten. Von den Hilfsorganisationen vorgewarnt, ließen sie sich widerstandslos in die Autobusse verfrachten.

Offensichtlich waren sie nur froh, das trostlose, verschmutzte Camp am Kanal Saint-Denis abzubrechen. Zelt an Zelt lebten die Afrikaner dort ohne fließend Wasser und Essgelegenheit, lethargisch wartend oder krank geworden, nur von gelegentlichen Joggern oder Ratten besucht – und alle paar Tage früh aufgestanden, um sich in die neueste Endloswarteschlange für das Asylverfahren zu stellen. Zwei Männer ertranken im Mai in einem der Flusskanäle zwischen der Seine und Nordfrankreich.

Gesetzgebung kürzlich verschärft

Wochenlang hatten sich die Regierung von Präsident Emmanuel Macron und die sozialistische Bürgermeisterin Anne Hidalgo gegenseitig der Untätigkeit bezichtigt. Am Mittwoch gab Innenminister Gérard Collomb nach und ließ die 1.700 Flüchtlinge und Migranten des größten Zeltlagers Frankreichs evakuieren. Sie wurden in Bussen in zwanzig Aufnahmezentren gebracht – meist Turnhallen im Großraum Paris. Dort sollen die Asylbehörden Identitätskontrollen vornehmen.

Und dann? Das weiß selbst Collomb nicht genau. Laut dem Minister, der von der Linken der Härte und von der Rechten der Laschheit gescholten wird, sind viele französischen Regionen "überschwemmt" von Ankommenden aus Krisenstaaten. Nach einem neuen Rekord von erstmals über 100.000 Asylgesuchen im vergangenen Jahr hat Frankreich kürzlich die Gesetzgebung verschärft, unter anderem durch die Beschleunigung der Asylverfahren.

Aber Collomb sagt selbst, dass eine wirkliche Lösung nur gesamteuropäisch sein könne. Die meisten der in Paris Gestrandeten sind sogenannte "Dubliner": Aufgrund des dritten Abkommens von Dublin aus dem Jahr 2013 müssen sie ihr Asylgesuch im ersten EU-Land stellen, das sie betreten haben. Das ist meist Griechenland, Bulgarien oder Italien. Aus Personalmangel oder Weigerung Italiens schafft Frankreich nur zehn Prozent der Zurückgewiesenen in die Ersteintrittsländer zurück. Und selbst wenn, reisen die meisten Hinausgeschafften wieder zurück in den Norden.

Viele versuchen es in Paris

Großbritannien hat zwar an Attraktivität verloren, weshalb das aufgelöste "Dschungelcamp" von Calais nur verstreute und kleinere Nachfolger gefunden hat. Viele Migranten versuchen es heute in Paris, wo die Polizeibehörden uneins und entsprechend passiv sind. Im Nordosten der Hauptstadt haben sich schon mehrere improvisierte Zeltlager gebildet. Am Kanal Saint-Martin warten zum Beispiel rund 500 Afghanen auf bessere Tage.

Jede Woche kommen laut der Hilfsorganisation "France terre d'asile" 400 bis 500 dazu. Das würde bedeuten, dass im Pariser Villette-Viertel nach einem Monat wieder gleich viele Asylsuchende auf der Straße leben wie vor der neuesten Polizeiaktion. Für Paris war es die 35. und zugleich größte Räumung seit 2015. Ein junger Eritreer sagte zu den Journalisten beim Besteigen eines Busses: "Ich weiß nicht, wohin sie mich bringen. Aber egal, ich war zwei Wochen hier, ich kann nicht mehr." Ein Sudanese, der seine Fingerabdrücke bei seinem EU-Eintritt in Italien hinterlassen hatte, erklärte sich zu allem bereit – nur nicht zur Rückkehr nach Italien, wo er "wie ein Sklave" eingepfercht gewesen sei. Er bevorzugt klar Paris – da lebt er wie ein Clochard. (Stefan Brändle, 30.5.2018)