Frauen auf der Straße erleben täglich Gewalt. Der Zugang zu ihnen ist für Helfer und Forschung meistens schwierig.

Foto: Robert Newald / Der Standard

Wien – Philadelphiabrücke in Wien-Meidling, Ende April: Zwei obdachlose Frauen lernen einen 36-Jährigen kennen, der ihnen anbietet, sie auf ein Getränk einzuladen. Die beiden werden von dem Mann in ein leerstehendes Lokal gelotst. Dort sperrt er sie in zwei separate Zimmer ein, misshandelt und vergewaltigt zumindest ein Opfer.

Nach fast 24 Stunden kann eine der beiden Frauen den Täter überzeugen, sie wegen ihrer schweren Verletzungen gehen zu lassen. Die 38-Jährige wird anschließend stationär in ein Krankenhaus aufgenommen. Zwei Tage später kehrt der mutmaßliche Täter an den Tatort zurück und wird von der Polizei festgenommen. Über den Aufenthaltsort der zweiten Frau ist bis jetzt nichts bekannt, bestätigte die Polizei Wien am Freitag auf Anfrage des STANDARD. Sie sei den Beamten namentlich bekannt, man wisse aber nicht, wo sie sich aufhält.

Prekäre Lage

"Aufgrund ihrer prekären Lage sind obdachlose Frauen einem höheren Risiko ausgesetzt, Gewalt zu erfahren", sagt die Sozialwissenschaftlerin Monika Schröttle von der Technischen Universität Dortmund im Gespräch mit dem STANDARD. "Viele sehen nicht, dass auch sie das Recht auf ein gewaltfreies Leben haben. Das ist eine Folge der gesellschaftlichen Ausgrenzung und Isolation", meint die Wissenschaftlerin, die zum Thema forschte.

"Gewalt, auch sexualisierte, ist definitiv ein großes Thema in der Szene", sagt auch Kibar Dogan. Dogan leitet das Team der "Ester", einem Tageszentrum im sechsten Wiener Gemeindebezirk, das sich an obdach- und wohnungslose Frauen richtet. Männer haben keinen Zutritt. Dort gibt es die Möglichkeit zu kochen, Wäsche zu waschen oder sich einfach auszuruhen – ohne einem Konsumzwang ausgesetzt zu sein. Die Nacht rüberzubringen ist eine wesentliche Herausforderung, vor der obdachlose Frauen jeden Tag aufs Neue stehen. Oft würden sie mit dem Nachtbus fahren oder in halbwachem Zustand warten, bis die Stunden vergehen. Deshalb gibt es auch Betten im Tageszentrum.

Latentes Gewaltrisiko

Als obdachlos gelten Menschen, die tatsächlich auf der Straße oder in Abbruchshäusern schlafen, auch jene, die einen Notquartierplatz haben. Wohnungslos sind hingegen jene Menschen, die in Übergangswohnhäusern leben, einen – meist temporären – Platz bei Freunden oder Bekannten haben, aber keine eigene Wohnung, erläutert Dogan. Die beiden Gruppen seien mitunter von unterschiedlichen Formen der Gewalt betroffen: "Auf der Straße gibt es immer ein latentes Gewaltrisiko. Viele Frauen fahren deshalb zu Orten, wo sie das Gefühl haben, dass dort niemand hinkommt."

Gerade bei versteckter Wohnungslosigkeit komme es hingegen oft zu Abhängigkeitsverhältnissen. "Die Frauen haben keinen Mietvertrag, keinen Meldezettel und sind abhängig vom Goodwill der Person, der die Wohnung gehört", sagt Dogan. Viele Frauen würden deshalb Zweckpartnerschaften mit Männern eingehen. Es werde oft eine Gegenleistung erwartet: "Von Putztätigkeiten bis zu sexuellen Gefälligkeiten, die gefordert werden."

Schwieriger Forschungsbereich

Wieviele Frauen und vor allem welche Gruppen in der obdachlosen Szene verstärkt betroffen sind, ist schwer zu eruieren. Die Caritas Hamburg gibt etwa an, dass 90 Prozent der wohnungslosen Frauen, mit denen sie in Kontakt kommen, sexuelle Gewalt erfahren haben. "Obdachlose sind eine Zielgruppe, die nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch in der Forschung oft untergeht", meint Wissenschafterin Schröttle. "Es gibt kein Register von Obdachlosen. Das heißt, man kann auch keine repräsentative Befragung durchführen."

Auch in Wien ist es schwierig, Obdachlosigkeit quantitativ zu erfassen. Laut Fonds Soziales Wien (FSW) gebe es keine gesicherten Zahlen, man sei jedoch daran, neue Methoden zu entwickeln. Vergangenes Jahr nutzten etwa 11.100 Menschen die Angebote der Wiener Wohnungslosenhilfe. Rund ein Drittel der Kunden ohne Wohnung oder Obdach sind Frauen.

Gewalt sei jedenfalls sehr verbreitet, und Frauen in allen möglichen Lebenssituationen davon betroffen, berichtet Dogan aus der Praxis. Die Gewalt komme sowohl von Fremden als auch aus der Szene. Erst vor ein paar Wochen ist eine Frau mit gebrochenem Schlüsselbein in das Tageszentrum gekommen, erzählt Dogan. Eine EU-Bürgerin, die bereits einige Jahre in Wien ist, und regelmäßig das Zentrum besucht. Als sie sich von ihrem gewalttätigen Partner trennte, wurde sie von ihm bedroht, er lauerte ihr auch bei ihrem Kellerschlafplatz auf. Es sei schwierig gewesen, sie zu einer Anzeige zu bewegen, sagt Dogan. "Sie hat keinen Meldezettel, keine Adresse." Mittel wie Wegweisung und Betretungsverbot können hier nicht greifen.

Herrscht seit dem Vorfall im April in der Szene größere Angst als früher? "Wie so oft bei solchen Vorfällen ist es so, dass es die Öffentlichkeit mehr beschäftigt als die Betroffenen selber. Denn für die ist es Alltag", sagt Dogan. (Francesco Collini, Vanessa Gaigg, 3.6.2018)